Einführung zur Korrespondenz von Hans Werner Henze mit Hans Magnus Enzensberger

„Wir müssen direkt aufpassen daß wir nicht in die Musikgeschichte eingehen. Ich möchte nämlich nicht eingehen.“ (HME)

Zur Korrespondenz zwischen Hans Werner Henze (1926–2012) und Hans Magnus Enzensberger (1929–2022)

Grundangaben zur Korrespondenz

Die Korrespondenz zwischen Hans Werner Henze und Hans Magnus Enzensberger umfasst 101 postalische Dokumente, von denen Henze 58 und Enzensberger 39 geschrieben hat, drei erschlossen sind und eines gemeinsam mit anderen verfasst wurde. Außerdem sind 9 Dokumente, die in direktem Bezug zur Korrespondenz stehen, überliefert. Es handelt sich um Briefe, Briefkarten, Postkarten und Telegramme aus den Jahren 1960 bis 1988, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit 1967 bis 1975 liegt. Henze und Enzensberger schreiben sich auf deutsch, wobei die Briefe beider von zahlreichen Einschüben in anderen Sprachen (englisch, italienisch, spanisch, französisch, lateinisch) durchsetzt sind.

Die Briefe von Henze sind im Nachlass Hans Magnus Enzensberger im Deutschen Literaturarchiv Marbach überliefert, die von Enzensberger in der Sammlung Hans Werner Henze in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel.

Schreibeigenheiten der Korrespondenzpartner

Beide Autoren wechseln im Laufe der Korrespondenz von der „normalen“ Groß- und Kleinschreibung zur durchgängigen Kleinschreibung (selbst nach Schlusspunkten) und zur „englischen“ Groß- und Kleinschreibung, bei der Namen und Orte großgeschrieben werden, wobei es keine eindeutige chronologische Entwicklung gibt.

Enzensberger: Hans Magnus Enzensberger benutzt für seine Post überwiegend die Schreibmaschine und fügt dann nur die Unterschrift und ggf. das Datum sowie gelegentlich Korrekturen oder Nachträge handschriftlich ein. Brief- und Postkarten schreibt er mit der Hand. Seine Handschrift ist recht groß, weich und ohne große Unter- oder Oberlängen.

Besonderheiten:

  • Die Ziffer 4 hat die Gestalt der gedruckten 4 und kann deshalb in seiner Handschrift gelegentlich auch mit einer 9 verwechselt werden.
  • Punkte bei Datumsangaben und nach anderen Ziffern stehen oft eher mittig als unten.
  • Die Grußformel „dein mang“1 wird oft abgekürzt zu „deinm“, wobei dann das „m“ direkt an das Wort „dein“ angeschlossen ist. Die Kurzform „mang“ wird im Schreiben häufig zu „mng“ oder sogar auf „m“ reduziert.

Henze: Hans Werner Henze schreibt fast ausschließlich mit der Hand, da ihn Schreibmaschinen bzw. deren Geräusch stören2, dennoch sind auch von ihm maschinenschriftliche Briefe – meist offiziellen Charakters – überliefert. In der Zeit der Korrespondenz mit Enzensberger ist Henzes Schreibschrift fast einer Druckschrift ähnlich: viele Buchstaben stehen einzeln. Die Schrift selbst ist recht klein, doch die Abstände zwischen den Worten sind groß.

Gemeinsame Projekte/Werke, die ausführlicher Gegenstand der Korrespondenz sind

(in Klammern die Dauer der Korrespondenz zu diesem Thema)

Persönliche Begegnungen, die sich aus der Korrespondenz ergeben

Zum Beginn der Bekanntschaft vgl. die Einleitung zum Abschnitt „Zu einigen Themen der Korrespondenz“weiter unten. Konkrete Treffen lassen sich aus diesen Informationen nicht festhalten. Im Brief vom 26. September 1972 (erstes P.S.) erwähnt Henze rückblickend einen Besuch Enzensbergers Ende 1958 in Neapel. Darüber hinaus gibt es in einem der ersten Briefe (Brief vom 11. Oktober 1967) einen nicht überprüfbaren Hinweis auf ein mögliches Treffen Ende November 1967 in New York. Belegt sind dann folgende persönliche Begegnungen:

Die in den späteren Schreiben noch erwähnten Treffen ließen sich nicht verifizieren. Möglich wären noch weitere Begegnungen z. B. bei der Aufführung von „La Cubana“ in Wuppertal (1976) (vgl. Autobiographie S. 451) oder bei Henzes Aufenthalten in München, besonders während seiner Arbeit dort anlässlich der Münchner Biennale 1988–1996.

Allgemeine Charakterisierung des Briefwechsels

Der Beginn des intensiven Austauschs zwischen Henze und Enzensberger basiert auf ihrer Begegnung im Rahmen der sog. studentischen Unruhen ab 1967 in Berlin und ist deshalb von Anfang an politisch bestimmt, wobei es weniger um konkrete politische Forderungen geht, als um die allgemeinen Herausforderungen für das eigene Leben und vor allem für die eigene Kunst. Dabei lassen die Briefe am Anfang deutlich erkennen, dass Enzensberger, obwohl der Jüngere, für Henze im Rahmen der „Bewegung“, wie sie selbst und andere dieses politische Umfeld immer wieder bezeichnen, eher der Ratgeber war und er sich gerade im Anfang sehr als Lernender sah.

Unmittelbar nach Beginn des engeren Kontakts setzen Überlegungen zur Stellung der Kunst in der „Bewegung“ und zu gemeinsamer Arbeit ein, die dann im Folgenden den Schwerpunkt der Korrespondenz bilden. Hierbei geht es sowohl um inhaltliche Fragen, aber auch um Aufführungsplanungen und vertragliche Abstimmungen. Diese „Arbeits“korrespondenz ist von Anfang an gleichberechtigt und geprägt von Respekt gegenüber den Leistungen des jeweils anderen. Die größere Bühnenerfahrung Henzes hat Enzensberger diskussionslos anerkannt.

Die regelmäßige Korrespondenz endet Anfang 1976 und es folgen dann bis Ende der 80er Jahre noch meist kurze Schreiben und Grüße, in denen vor allem beklagt wird, dass es nicht mehr zu persönlichen Treffen kommt.

Beide Korrespondenzpartner haben die Zeit, die im Mittelpunkt dieser Korrespondenz steht, also vor allem die Zeit der „Bewegung“ und den bzw. die Aufenthalte in Kuba später in ihren autobiographischen Schriften (Enzensberger, Hans Magnus: Tumult, Berlin 2014, darin bes.: „Erinnerungen an einen Tumult (1967–1970)“, S. 106–237 und Henze, Hans Werner: Reiselieder in böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995 , Frankfurt am Main 1996, bes. Kap. 8–10) noch einmal aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang reflektieren sie in der Rückschau auch ihre Ideen und Aktivitäten in dieser Zeit:

Enzensberger schreibt dazu in den Prämissen:

„Noch weniger halten sich die ‚Erinnerungen an einen Tumult‘ an die Standards der Dokumentation oder gar der Philologie. In den Jahren 1967–1970 hat es mir an Lust, Zeit und Interesse gefehlt, ein kontinuierliches Tagebuch zu führen. Übrigens kann niemand alles, was passiert, 1:1 darstellen. Dabei kommt das bekannte Landkartenparadox ins Spiel. Ein Lageplan, der so genau wäre wie das, was er abbildet, würde die Realität verdoppeln und wäre überflüssig. (Daran scheitern, nebenbei bemerkt, alle Machtphantasien, die von der totalen Überwachung träumen.) Also: caveat lector!

Auch der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren, die ich in meinem Keller fand, angetroffen habe. Dieses Ich war ein anderer. Ich sah nur eine Möglichkeit, mich ihm zu nähern: den Dialog mit einem Doppelgänger, der mir wie ein jüngerer Bruder vorkam, an den ich sehr lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Ich wollte ihn ausfragen. Doch war mir weder an einem Verhör noch an einer Beichte gelegen. Ob dieser knapp Vierzigjährige sich mit Schuldgefühlen oder Peinlichkeiten herumschlug, ob er recht oder unrecht hatte, war mir egal. Das war seine Sache. Damit mußte er selbst fertig werden. Das einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?“ ( Tumult, S. 106f.)

Henze leitet das 8. Kapitel mit folgendem Zitat von Ingeborg Bachmann ein (Autobiographie. S. 286):

„Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle ... ... Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.“ (Ingeborg Bachmann, Böhmen liegt am Meer, 1964)3

Charakterisierung der Beziehung der Briefpartner

Der Briefwechsel von Henze und Enzensberger dokumentiert in seiner Kernzeit 1967 bis 1975 ein großes Einvernehmen, echtes Interesse an der Person des Anderen und enthält keine Missstimmung oder gar Streit. Beide versichern sich gegenseitig der Bedeutung des anderen, wobei sich durch die Briefe der Eindruck ergibt, dass Enzensberger für Henze noch wichtiger war als umgekehrt.

In jedem Fall haben beide die gemeinsame Arbeit sehr geschätzt (HME an HWH 6. 6. 1975: „was für eine schöne arbeit war das!“). Dennoch ist die Korrespondenz und der Kontakt in den späten 70er Jahren abgebrochen und Henze schreibt am 28. April 1981: „es ist lange her dass wir das letzte mal briefe ausgetauscht haben, warum hat es eigentlich aufgehört?“ und Enzensberger sagt rückblickend: „Aber eines Tages, ich weiß nicht warum, war unsere Freundschaft erloschen, und wir haben nie wieder voneinander gehört.“ ( Tumult, S. 214)4

Zu einigen Themen der Korrespondenz

Henze und Enzensberger lernten sich bei den Treffen der Gruppe 47 in den 50er Jahren kennen und blieben seither – ev. über Ingeborg Bachmann – in losem Kontakt. In seiner Autobiographie erwähnt Henze Enzensberger erstmals im Jahr 1957 (S. 179): Henze schrieb ein Hörspiel für die Abteilung Radio Essay am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart, die zu der Zeit Alfred Andersch leitete und dessen Mitarbeiter Enzensberger und Helmut Heißenbüttel waren. In den Briefen wird ein persönliches Treffen 1958 erwähnt und vermutlich haben sich beide auch während Enzensbergers Italien-Aufenthalt anlässlich seines Stipendiums der Villa Massimo 1959 getroffen. Aus dem Jahr 1960 sind zwei Briefe Henzes überliefert, die die Unterstützung Enzensbergers bei der Übersetzung des Librettos von Elegy for Young Lovers betreffen.

„Bewegung“ (Politik)

Wie Henze selbst in seiner Autobiographie schreibt, wurde der engere Kontakt zwischen den beiden Künstlern durch die politischen Ereignisse 1967, speziell durch die Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967 ausgelöst. Henze fuhr nach Berlin, lernte in Enzensbergers Wohnung die führenden Köpfe der Studentenrevolte kennen und umgehend wechselte die Anrede von dem damals auch zwischen jungen Menschen üblichen „Sie“ zum genossenschaftlichen „Du“. Dabei gehörten Henze und Enzensberger mit ihren 41 bzw. 38 Jahren zu den „Alten“ der „Bewegung“.

Während sich Henze Anfang 1968 vor allem als Lernender sieht und in Berlin z. B. bei der Organisation des Vietnam-Kongresses engagiert (vgl. den Brief vom 28. Januar 1968), ergibt sich für Enzensberger gleich zu Beginn von 1968 ein großer Bruch: Er gibt sein Stipendium in Amerika auf und entscheidet sich für die „Revolution“ in Kuba,

„denn siehst du es ist nicht gut vom imperialismus immer nur zu reden. der ist so wirklich wie die telefonrechnung. dafür gehe ich im oktober nach cuba um dort zu arbeiten, für mindestens ein halbes jahr. es ist dort eine sehr schwierige aber atemberaubende revolution, eine revolution die noch imstande ist zu lernen und alles anders zu machen als vorher. außerdem ist habana herrlich. arm aber nicht bedrückt.“
(Brief vom 22. Januar 1968)

Das Thema Kuba wird für die nächsten Jahre bestimmend, denn durch die Aufenthalte in Kuba (Enzensberger: Oktober 1968 bis Ende April 1969; Henze: 21. März bis 16. April 1969 und 8. November 1969 bis 28./29. Januar 1970; ein weiterer geplanter Besuch Henzes Ende 1970 fand, wie die Briefe aus dieser Zeit zeigen, nicht statt) und die Beschäftigung mit der kubanischen Literatur, Musik und Politik wird auch wesentlich ihre künstlerische Zusammenarbeit bestimmt (s. u.)

Gelegentliche Zweifel an der „Bewegung“ und der Revolution in Kuba, die schon 1969 geäußert werden, festigen sich im Juni 1971, nach der Verhaftung des Dichters Heberto Padilla, gegen die beide gemeinsam mit zahlreichen westlichen Intellektuellen mit ihrer Unterschrift auf einem Telegramm an Fidel Castro protestierten. Bestürzt reagieren sie auf das erzwungene „Geständnis“ Padillas (vgl. die Briefe vom 8. und 19. Juni 1971 und 9. Juli 1971).

Enzensberger hatte bereits Mitte 1972 öffentlich geäußert, dass er wegen des Vietnamkrieges Amerika nicht mehr besuchen werde. In der Endphase dieses Krieges Ende 1972/Anfang 1973 nehmen die politischen Äußerungen in den Briefen wieder einen deutlich breiteren Raum ein.

Folgen der „Bewegung“ für die Kunst

Gleich zu Beginn der Korrespondenz spielt die Bedeutung der „Bewegung“ für die Kunst bzw. umgekehrt die Bedeutung der Kunst für die „Bewegung“ eine große Rolle und schon am 22. Januar 1968 spricht Enzensberger eine Zusammenarbeit an:

„wir könnten zusammen etwas machen. es müßte etwas neues sein, das sommergedicht ist schon zwei jahre alt, wir sind nicht mehr dieselben die wir vor zwei jahren waren, jetzt muß man schon ganz anders reden.“
Dabei gehen die Überlegungen – wie vielleicht nicht verwunderlich bei der Zusammenarbeit eines Schriftstellers und eines vor allem durch seine Opern bekannten Komponisten – sofort in Richtung „Oper“.

Doch ist die Hinwendung zur Oper auch ein „politischer“ Akt:

„die besetzung der oper ist nicht nur ein akt der hoffnung, sondern auch ein akt der verzweiflung. die sie besetzen haben recht gegen die gesellschaftliche gestalt der kunst, wie sie heute dasteht. sie haben unrecht gegen ‚mozart selbst‘ – aber unsere gesellschaft erlaubt keinen ‚mozart selbst‘ mehr. das verführt die revolutionäre zu einer art von barbarei. ohne revolution haben wir keine kultur mehr, nur ihr lügenhaftes abziehbild. ich fühle das so stark, daß ich keine gedichte mehr schreiben mag. ich sehe keinen ausweg aus diesem dilemma. die auswegslosigkeit unserer lage ist es, was die oper zeigen muß. also nicht rechtfertigung oder verdammung der oper, sondern unaufgelösten widerspruch, als ironie und als wirklicher kampf. am schwersten wird das zu zeigen sein bei der oper in der oper: denn dort muß die ganze sache wie im brennspiegel sich sammeln und konzentrieren. vielleicht so, daß man eine wirkliche oper (zauberflöte) nimmt und sie als zitat beginnen läßt, dann zunehmend deformiert, musikalisch und dramatisch, bis zur unmöglichkeit weiterzuspielen. so ein verfahren würde klarmachen, daß es nicht an mozart liegt, sondern an uns und unserer lage. was hältst du davon? ist das musikalisch und fruchtbar?“
(HME an HWH, 5. September 1968)

Die weiteren Überlegungen zur Oper gehen in die Vorarbeit und die Arbeit an „La Cubana“ ein (s. u.).

Avantgarde

Am Ende der Arbeit an diesem Vaudeville (Mitte 1972) kommt es zum Austausch über die „Avantgarde“, mit der sich Henze schon von Anfang an als Komponist auseinandersetzen musste. Enzensberger schreibt am 1. August 1972 an Henze:

„Ich bin immer weniger geneigt mir meine Vorliebe für Inhalte vorwerfen zu lassen und die Vorschriften des Kulturlebens einzuhalten. Je mehr Leute sich mit unsern Sachen unterhalten umso besser. Je mehr in dem was wir machen passiert, vorkommt, sich regt umso besser. Im Schauhaus der Avantgarden bringe ich keine Minute mehr freiwillig zu. Dort, meine ich, sollten wir auch das schlechte Gewissen zurücklassen das uns einzureden man nicht müde wird. Es kann schon sein daß wir nicht mehr zu retten sind – aber wenn, dann durch Selbstzensur auf keinen Fall, auch nicht durch die handelsüblichen Selbsttäuschungen. So denke ich und stelle fest, daß mir in dieser Geistesverfassung mehr einfällt als sonst.“
Und Henze antwortet am 12. August:
„es gefällt mir, was Du sagst über das schauhaus der avantgarden wo wir unser schlechtes gewissen zurücklassen sollen. ich wollte das meine eigentlich einem kräftigen südwind anvertrauen um gar nichts mehr zurückzulassen, aber wenn Du willst, lege ich es auch im schauhaus der avantgarden nieder. es ist politischer. ich hab ja schon oft versucht, mich zu befreien, man ist dann sehr isoliert allerdings, braucht dringend einige gute freunde.“

Am 25. Juli 1974 äußert Enzensberger dann:

„Ich habe mehrere Projekte, will auch Poesie machen. Ich habe den Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieb hier satt, habe Berlin satt und gedenke, in Zukunft weniger Meinungen und dafür mehr Kunst zu machen. Das sage ich ganz schamlos.“

Zu den gemeinsamen Werken

El Cimarrón (1968–1971)

Am 19. Juni 1968 spricht Enzensberger erstmals den „Cimarrón“ an, wobei es im Brief so formuliert ist, als hätten Henze und Enzensberger schon vorher mündlich über den Stoff gesprochen:

„andererseits ist die arbeit, wie ich jetzt sehe, schwieriger als ich dachte. sie wird etwa einen monat in anspruch nehmen. die geschichte ist aber ungeheuer, und sie ist für deinen zweck wunderbar geeignet. ich will mich also, wenn du es wünschst, bald an diese arbeit machen. du könntest den text dann im sommer komponieren.“
Leider geben die folgenden Briefe keinerlei weitere Informationen, d. h. in diesem Fall scheint Enzensberger wirklich die Texte aus dem Tatsachenroman von Miguel Barnet zusammengestellt und Henze sie anschließend ohne Änderungswünsche vertont zu haben. Auch die Konzeption dieses ungewöhnlichen „Rezital für vier Musiker“ ist nicht Gegenstand der Briefe. Lediglich die Übersetzung von Christopher Keene wird im Oktober 1970 erwähnt. Ferner berichtet Henze von Reaktionen einzelner Freunde und von der Aufnahme der Musik in Kuba und erwähnt die Vorbereitungen mehrerer Aufführungen.

Weitere Literatur zur Entstehung des „Cimarrón“:
Henneberg, Claus H.: El Cimarrón. Ein Werkbericht, Mainz 1971.

2. Violinkonzert (1971–1972)

Auf das Gedicht „Hommage à Gödel“ von Enzensberger wurde Henze von dem gemeinsamen Freund Gaston Salvatore aufmerksam gemacht. Interessanterweise formuliert Henze hier die Konzeption des Konzerts bereits bevor er das Gedicht überhaupt gelesen hatte (vgl. den Brief vom 15. 2. 1971). Enzensberger muss sehr bald zugestimmt haben und Henze komponierte das 2. Violinkonzert bereits im Sommer 1971:

„über das violinkonzert und die art, wie ich Dein wunderbares Gödel-Gedicht (das mir wie ein kommentar zu ‚staat und revolution‘ vorkommt) darin verwendet habe, schreibe oder erzähle ich Dir. es ist noch nicht ganz fertig.“
(vgl. Brief vom 8. Juni 1971)

Anschließend spielt das Konzert in der Korrespondenz nur noch wegen der Übersetzung des Textes und in Bezug auf die ersten Aufführungen eine Rolle.

Voices (1969–1973)

Die ersten Ideen zu dem späteren Liederzyklus „Voices“ äußerte Henze schon am 26. Juni 1969:

„Merkwürdigerweise kriege ich, während ich sie [= die 6. Sinfonie] schreibe, Lust auf andere Sachen. Z. B. Lieder auf cubanische Gedichte (Padilla, Barnet, von Letzterem Fé de Erratas, und para vestir el sueño de las hojas) weiss nicht ob auf deutsch oder auf Spanisch, aber könntest Du mir, in einer Minute des völligen Otium, 10 bis 12 solche Gedichte vorschlagen, vielleicht gar sie schicken (in zwei Sprachen – ?) damit ich sehen kann?“

Die Entstehung des Zyklus von dieser ersten Idee bis zur endgültigen Gestalt mit ihren 17 Liedern ist aus dem Briefwechsel der beiden nicht nachvollziehbar, obwohl Henze das Thema nicht aus den Augen verlor (vgl. den Brief vom 3. Februar 1971). Erst 1973 greift Enzensberger noch einmal in die Konzeption ein:

„Ich habe über deinen Zyklus nachgedacht, und es scheint mir nach wie vor, daß ihm ein Moment von Selbstreflexion, voire von Selbstkritik fehlt. Außerdem vermisse ich eine Prise Anarchismus darin. Beides enthält, wenn du mich fragst, der Text den ich dir heute schicke.“
(vgl. den Brief vom 23. März 1973).

Mit der Zusendung dieses Gedichts, „Schluß“ von Michaelis Katsaros in der Übertragung von Enzensberger, erhielt der Zyklus seine endgültige Gestalt und Ende Oktober 1973 meldete Henze den Abschluss der Komposition: „Wenn Du das Blumenfest [Gedicht von Enzensberger, das am Schluss des Zyklus‘ steht] gehört hast wirst, nein musst Du mich lieben!“ (HWH an HME 23. Oktober 1973

La Cubana (1968–1975)

Der weitaus größte Teil des Briefwechsels behandelt jedoch „La Cubana“ bzw. die ersten Ideen zu einer neuen Oper (s.o.):

„ich wär gern dabei. denke nicht an eine ‚handlung‘ sondern an handlungen, sehr viele handlungen, unterbrochen von grellen blitzen, monologisierenden rezitativen (zb mit ausschnitten aus der verteidigungsrede debarys [sic] vor dem bolivianischen gericht); dazwischen grobe reime (‚lyrics‘ in der manier des englsichen [sic] musiktheaters); lärmstellen; die ‚kultur‘ wird verwiesen auf goldgerahmte kontrastarien mit poetischem text – da wird unsere selbstkritik, literarisch und musikalisch – wenn sie wollen, unser abschied von unserer bisherigen arbeit – wie lange darf diese ‚oper‘ werden?“
(HME an HWH 22. Januar 1968)
Sehr bald scheint hierbei das öffentliche Medium Fernsehen, für das beide bereits gearbeitet hatten, als „Ort“ gedacht worden zu sein: „das TV-ding stelle ich mir vor als pseudooper – in wirklichkeit sollten wir, denke ich, eine Ausstellung machen: Oper als welt-ausstellung. politiker im käfig. molotovcocktail. anonyme helden.“ (5. 3. 1968) Am 7. Juni 1968 sandten Henze und Enzensberger ein Exposé an die RAI. doch dann kam das Projekt ins Stocken und es kamen Zweifel (vgl. die Briefe von September 1968). Am 26. Juni 1969 schrieb Henze an Enzensberger:
„gestern war ich also bei der RAI, Borelli ist jetzt in einem anderen ‚organismo‘, aber ich sah ihn doch, er übergab mich und unseren Fall seinem Nachfolger (der Dich heute anrufen wollte) ich schilderte La Canción de Rachel und erntete grosses Erstaunen. Wie, Enzensberger und ich, engagierte Leute, wollen plötzlich von ihrem verwegenen Projekt zurück zu leichtem Spiel? Es war wie ein Vorwurf, kommend von Leuten der Rechten (wahrscheinlich) und ich liess in die Pause des Schocks die trefflichen? Worte fallen: Ci sia consentito di tanto in tanto.
Erleichterung war zu spüren, es hiess auch, die anderen Sender wären sicherlich entzückt, sei doch der Grund für die langen Verzögerungen der Praktiken nicht nur in unseren ausgedehnten Auslandsreisen, sondern auch in der Unruhe einiger der Eurovision-Teilnehmer zu finden gewesen. Nun würde sicher alles recht hurtig vonstatten gehen.“

Hiermit ist die Ausgangslage für „La Cubana“ umrissen und der hier publizierte Briefwechsel ist zu diesem Werk ein Art Arbeits-Tagebuch5. Henze schreibt nach Fertigstellung der Komposition am 26. September 1972:

„habe auch gedacht dass unser briefwechsel eine ganz muntere und unterhaltsam-lehrreiche lektüre sein könnte. hast Du meine briefe aufgehoben? (ich hab ja keine Kopien davon) und ich habe natürlich die Deinen aufgehoben alle, schon von den ersten anfängen der Rachel-idee. vielleicht könnte es ein hübsches Buch ergeben, und es wäre für uns völlig mühelos. denk mal darüber nach.“

Es sollen hier deshalb nur die wichtigsten Stationen der Entstehung, die sich aus den Briefen ergeben, gebündelt werden:

  • Ende 1969: Fertigstellung der Synopse zu dem Vaudeville. Henze erhält diese am 12. Januar 1970.
  • Ende Dezember 1970: Gespräch über „La Cubana“ in Marino. Hierzu war ein Text fertig. Die Einarbeitung der besprochenen Änderungen verzögerte sich bis August 1971.
  • Inzwischen sollte das Stück nicht mehr mit der RAI sondern mit der NET produziert werden. Der Vertrag mit der NET wurde von Henze am 8. Juni 1971 unterschrieben, die Unterzeichnung mit Enzensberger verschob sich; erst am 1. März 1972 wurde der Abschluss aller Verträge (auch mit Schott) gemeldet, doch gab es mit der NET noch Nachverhandlungen.
  • Abschluss der Komposition im September 1972.
  • Produktion des Fernsehfilmes für die NET: Mitte November bis kurz vor Weihnachten 1972.
  • Überlegungen zum Aufführungsort der Bühnenfassung, deren Uraufführung letztlich am 28. Mai 1975 am Gärtnerplatztheater in München stattfand.
  • Rundfunkfassung im WDR 1982

Nach Beendigung der Arbeiten an dem Uraufführungsfilm schrieb Henze an Enzensberger am 14. Dezember 1972:

„anyway, der grund dieses briefes ist aber der, dass ich Dir sagen möchte, dass unser stück sehr gut ist! und dass es allen schauspielern und sängern sehr gefällt. weil jede szene, jeder satz, jede situation ganz ungewöhnlich gut funktioniert, nicht als kalt ‚gemachtes‘ theater sondern als direkte wirkung, ganz rührend und bewegend, und als wahrheit, einfache wahrheit herauskommend. es hat mich, zugegeben, überrascht, ich hätte es in diesem masse nicht für möglich gehalten! Du vielleicht auch nicht. ich habe den eindruck, dass La Cubana etwas ganz neuartiges ist, dass es so etwas noch nie gegeben hat. auch die musik hat so etwas (u.a. auch einen qualitativen sprung: nach vorn) auch sie macht den leuten spass. und überdies ist das Ganze sehr ‚links‘ viel mehr (vielleicht) als wir gewollt haben.“

Zu den erhaltenen Quellen zu La Cubana

Im Rahmen der Edition des Briefwechsels war es nicht möglich die Quellenlage zu „La Cubana“ kritisch aufzuarbeiten und damit eindeutig zu klären, ob sich die Libretto-Fassungen, auf die im Briefwechsel Bezug genommen wird, erhalten haben. Wo dies möglich war, ist dies in den Kommentaren vermerkt. Es lassen sich folgende Quellen nachweisen.

DLA Marbach: Bestand Enzensberger, Hans Magnus: 2 Mappen zu „La Cubana“, die erste mit der Aufschrift „Vorstufen“ und die zweite mit dem Vermerk von Enzensberger: „Erste Fassung / 1974 | Kurze Fassung / 1991 | Englische Version (TV) WNET New York“. Bereits die Bibliothek hat vermerkt, dass Dokumente zu diesen Themen nicht in der Mappe enthalten sind. Notenausgaben sind nach Auskunft des Archivs nicht erhalten. Die Mappen enthalten in dieser Reihenfolge:

  • Vorstufen, Synopsen, Übersichten zu „Andiamo all’opera“, „L’opera occupata“ und „Rachel’s Song“ (1968/1969)
  • Typoskript: „Ay, Rachel!“ mit „Konspekt der Handlung“ und anschließend einer Fassung des Librettos mit zahlreichen Korrekturen von Enzensberger
  • Typoskript „¡Ay, Rachel! | Vaudeville von Hans Magnus Enzensberger | nach Motiven von Miguel Barnet | Musik von Hans Werner Henze“. Dieses Typoskript enthält einen copyright-Vermerk von Enzensberger und ist datiert auf 1970/1971. Es handelt sich um ein teilweise durchschossenes Exemplar mit wechselnden Papiersorten. Die Blätter sind gezählt von 2–56, wobei die Paginierung z. T. korrigiert ist. Es handelt sich um ein sauberes Exemplar mit wenigen handschriftlichen Korrekturen.
  • Weiteres Exemplar dieser Fassung ab S. 3, in dem die Seite 19–25, 28–29 und 36–42 fehlen. Dieses Exemplar enthält einige Korrekturen mit Kugelschreiber. Ein Blatt mit dem Personenverzeichnis, das als Blatt 2 gezählt ist, ist einzeln überliefert. Dazu ist ein Blatt mit der Bezeichnung „Musikliste“ von der Hand Enzensbergers überliefert.
  • In der Mappe 2 ist ein Arbeitsexemplar überliefert, das auf verschiedenen Schreibmaschinen geschrieben und z. T. neu zusammengeklebt wurde. Dieses enthält zahlreiche Korrekturen in rot und blau, darunter z. B. die Änderung von „Chor“ zu „Chanson“ und die Änderung des Wohnwagen-Duetts zu einem Terzett, die Henze in seinem Brief vom 5. Juni 1972 anspricht. Dieses Typoskript ist von Enzensberger datiert „Geschrieben 1969–1970“

Paul Sacher Stiftung Basel: Sammlung Hans Werner Henze:

  • Typoskript mit dem Titel „Rachels Erzählungen“, 7 Seiten, von Enzensberger gezeichnet mit „Stand vom 1.11.1970 | con cariño m.“
  • Unvollständiges Exemplar des Librettos eingebunden in Henzes Particell. Das Typoskript hat den Titel „Ach, Rachel! [korrigiert von Henze zu La Cubana] | Vaudeville von Hans Magnus Enzensberger | nach Motiven von Miguel Barnet | Musik von Hans Werner Henze“ und trägt den Vermerk: „Copyright 1970 by Hans Magnus Enzensberger“. In seinen Briefen aus der Zeit der Arbeit an der Komposition von „La Cubana“ dürfte sich Henze auf dieses Typoskript des Librettos beziehen.
  • Englischer Text in der Übersetzung von Neville und Stephen Plaice mit dem Titel „‚La Cubana‘ | Vaudeville in five sketches by | Hans Magnus Enzensberger | adapted from motifs by Miguel Barnet | Music by | Hans Werner Henze“. Das Exemplar enthält keinerlei Eintragungen.

Weitere Literatur zur Entstehung von „La Cubana“:
Henze, Hans Werner: „Ein Vaudeville“, in: Festschrift für einen Verleger. Ludwig Strecker zum 90. Geburtstag, hrsg. von Carl Dahlhaus, Mainz 1973, S. 29–36 (auch in: Hans Werner Henze, Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1975, München 1976, S. 203–212.)

Irmlind Capelle
Detmold, im Juni 2023

Wir danken der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger und der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan) für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Briefe.

Einzelnachweise

  1. 1Mang ist der Rufname von Hans Magnus Enzensberger.
  2. 2Vgl. z. B. den Brief vom 3. September 1972.
  3. 3Dieses Gedicht von Ingeborg Bachmann hat einen besonderen Bezug zu dieser Zeit, da sie es im Kursbuch 15 (November 1968), in dem Enzensberger die ersten Auszüge von „ Der Cimarrón “ auf deutsch veröffentlichte, gemeinsam mit drei weiteren publizierte.
  4. 4Der Kontakt muss zumindest um 1990 herum auch von Enzensbergers Seite her noch aktiv gewesen sein, denn in Henzes Bibliothek findet sich ein Exemplar eines Privatdrucks: „Alles Gute“ (Exemplar 88 von 150), den Enzensberger erst 1989 hat drucken lassen.
  5. 5Wegen des direkten Bezugs der Briefe aufeinander wird in der Kommentierung darauf verzichtet, diesen jeweils noch einmal im Detail nachzuweisen, zumal Henze und Enzensberger selbst sehr deutlich angeben, auf welche Stelle im Brief des anderen oder im Werk sie gerade eingehen.

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