Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 3. Oktober 1972
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[Typoskript]
Lieber Hans: zwar sehen wir uns bald, in
Darmstadt
*, aber schnell zuvor
noch Dank für das größte Buch das jemals in
meine Hände kam. Schotts
sandten letzte Woche einex‡ Exemplar
deiner Partitur in Fotokopie.* Sehr
eindrucksvoll und enorm und eine Freude
auf den Tisch zu legen. Ich
lese das wie‡ ein chinesisches Buch. Es ist ganz fantastisch wieviel
Arbeit in
einer solchen Partitur steckt. Für einen gewöhnlichen Schrift-
schreiber kaum vorstellbar. Ich meine jetzt gar nicht so sehr den Auf-
wand im Kopf, sondern vor allem die Technik des Aufs Papier
Bringens.
Ungeheuerlich. Ich kann mir vorstellen daß Du danach für vierzehn
Tage
die Hände einfach sinken läßt.*
Bringst du eine Kopie eines Bandes mit, zum Anhören? ich bin so ge-
spannt.
Ich weiß es nx‡
ist nicht der Moment von Rachel aufs Neue zu reden, und
was ich nun sage
hat ohnehin Zeit bis übers Jahr. Aber ich sah daß
sich Aufwand und
Maschinerie, was die Musik betrifft, doch sehr ver-
größert haben
– oder bilde ich mir das nur ein weil dieses Buch über
jeden Tisch
hinausragt? Immerhin, allein die Liste der Instrumente auf
dem Vorsatzblatt
ist sehr lang und macht den Eindruck als könnte ein
gewöhnliches Theater
das gar nicht leisten. Hier also meine Überlegung:
ob man nicht eines Tages
eine "kleine Rachel" machen
sollte, eine Art
Klavierauszug, will sagen, kleine Fassung für
Sprechbühnen, mit höchstens
ze‡hn Musikern, parktikabel‡ für
kleinere Spielgruppen? Bitte erschrick
nicht über diese Idee, wenn
überhaupt etwas an ihr dran ist dann wäre
das eine Aufgabe die vor einem
Jahr nicht in Angriff zu nehmen ist, näm-
lich nicht vor den
ersten großen Aufführungen, sondern danach, wenn Er-
fahrungen
vorliegen und wenn Leute das zu spielen und zu hören wünschen
die nicht so
reich sind wie die großen Bühnen... Rx‡
Technisch scheint mir
auch die Reduktion kein so
großes Problem zu sein. Wie gesagt, nur ein Ge-
danke für später.*
Vorerst wollen wir uns delektieren an deiner großen Parti-
tur.
Ich war zwei Tage auf der Buchmesse*, Riesenkasperltheater und Publizität
für mein
An archisten-‡Buch. Die Operation im ganzen gut gelaufen, aber ich
spüre eine enorme latente Feindseligkeitex‡, gestaute Aggression gegen (z-B.‡)
mich, in vielen Andeutungen spürbar. Politisch ist daran nur die Verklei-
dung, im Grunde sind es eben die Konkurrenz- und Neidmechanismen, die sich
wie du weißt auch links geben können. Wahrscheinlich werden sie dann bei
der nächsten Gelegenheit über mich herfallen, und das ist Rachel. Umso
wichtiger, daß dies ein Erfolg wird.
Am besten ein Erfolg von außen, d.h. einer der vom Ausland nach Deutsch-
land bereits als Erfolg kommt. Dann steht die Schreihälsigkeit
von vorn-
herein dumm da. Wir werden uns vor der Prem‡iere absprechen müssen was wir
sagen, in Interviews usw. Ich bin
für aggressive Frechheit. Keinerlei
Entschuldigungen dafür daß wir uns
amüsieren, daß dies unterhaltsam ist
usw. Aber das alles sind Sorgen oder
vielmehr Späße fürs nächste Jahr.
Ich war auch in Darmstadt bei den Proben. Das Theater ist unvorstellbar,
ein technologischer Mammut. Gastons Stück hält sich auf der Bühne sehr
gut, die Aufführung ist kompetent, wenn auch nicht genial. Das Stück ist
immer besser als seine Aufführungen. Man liebt Gaston dort, ja man betet
ihn an. Die Leute sind sympathisch. Die Journailla natürlich wie immer
neidisch, wider Willen von Gaston imponiert und zum Teil tückisch aufge-
legt, siehe oben: ihre politischen Argumente nichts weiter als Ausdruck
eines Ressentiments gegen jeden der sich freier bewegt als diese Tinten-
kulis. Dagegen hilft nur Kaltblütigkeit, Weiterarbeiten, Freundschaft und
Glück. Daß wir etwas können, und zwar eher mehr als andere, setze ich
getrost voraus, das ist ja auch nicht das Problem; es ist dies ja eben
der Grund warum wir Feinde haben.
Bis bald und für immer. Deinm
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Paul Sacher Stiftung (CH-Bps)
Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- helles Papier
- Faltung2mal auf DinA6
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 297x210 [mm] (HxB)
- anderthalbzeilig, kein Einzug, keine Leerzeilen
- auf erstem Blatt ist die letzte Zeile nach unten verrutscht
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Maschinenschrift.
-
2.Handschrift, Enzensberger, Hans Magnus, Füller (schwarz).
Textkonstitution
-
Folgend: handschriftlich, Füller (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus
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Folgend: Typoskript
-
"e"gelöscht durch Überschreibung
-
"e""r" überschrieben mit "e"
-
"n"gelöscht durch Überschreibung
-
"e""a" überschrieben mit "e"
-
"R"gelöscht durch Überschreibung
-
"e"gelöscht durch Überschreibung
-
"m""i" überschrieben mit "m"
-
Folgend: handschriftlich, Füller (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus
Einzelstellenerläuterung
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"… wir uns bald, in Darmstadt"Beide besuchten die Uraufführung von Gastón Salvatores "Büchners Tod" in Darmstadt am 7. Oktober 1972, vgl. die vorangehenden Briefe.
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"… Exemplar deiner Partitur in Fotokopie."Hierbei muss es sich um eine Kopie der Partitur zu "La Cubana" handeln.
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"… die Hände einfach sinken läßt."In den Briefen, die den Abschluss der Arbeit an "La Cubana" beschreiben, hatte Henze mehrfach über den enormen Schreibaufwand geklagt.
-
"parktikabel"recte "praktikabel".
-
"… ein Ge danke für später."Diese Idee hat Henze in seinem Brief vom 28. April 1981 aufgegriffen. Eine radikale "Verkleinerung" hat Henze erst 1992/1993 umgesetzt mit "Lieder und Tänze aus der Operette ’La Cubana’" .
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"… zwei Tage auf der Buchmesse"Die Frankfurter Buchmesse fand 1972 vom 27. bis 30. September statt.
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"An archisten-"recte "Anarchisten".
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"z-B."recte "z.B."