Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, vom 26. bis 29. September 1972
Einstellungen
Zeige Markierungen im Text
Kontext
Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1972-09-03: an Enzensberger
- 1972-09-11: von Enzensberger
Folgend
- 1972-10-01: an Sacher
- 1972-10-03: von Enzensberger
[Manuskript]
00047 Marino (Roma)
bin aus den ferien zurück, es waren nur 10 tage, ein bisschen wenig für ein
ganzes jahr, ach hätten wir doch eine gewerkschaft! – war in vulcano, besser
auf vulcano, es ist eine der aeolischen inseln. es waren auch dort weder leute
noch elektrisches licht.*
mein heutiger brief wird doof, ich bin müde, wollte Dich grüssen, mit Dir sprechen, aber
ich breche jetzt ab und schreib Dir morgen in ruhe. Ciao
Mang,
29 sept 72
habe einen tag gar nichts getan, und dann noch einen tag gar nichts. mit Rainer Esche
und Uwe aus Berlin
* und Maurizio
badmington[sic]‡ doubles gespielt. und boccia.
bald komm ich Dich in Berlin besuchen, zwar sehen wir uns bei Gastóns premiére
in
Darmstadt (Città d’Intestini).* bin darauf sehr gespannt, wie auch auf
Deine
textikonen.*
„etwas was man zugleich mit dem gehirn und mit den händen
macht“ klingt
gut; hat es was mit musikmachen zu tun, was ja auch? ich habe
über die
Rachel-musik eine trauerarbeit geschrieben (schreiben müssen) sobald sie
getippt ist,
schicke ich sie Dir, mit der bitte sie auf den inhalt zu prüfen.
wäre sehr stolz
(käme mir dann mündig vor) wenn Du nichts dran auszusetzen
hättest. es geht
um das musikmachen als arbeitsprozess und wie das im falle der
Rachel-musik zu
00047 Marino (Roma)
verstehen ist. ich zitiere auf‡ auch 50 %‡ Deines „letzten beitrags zur frage ob literatur“ * und Schott muss
Suhrkamp um nachdruckerlaubnis bitten. mein aufsatz soll in einem sammelband von beiträgen
der schott-autoren (von Penderekki[sic]‡ bis Ligeti und zurück) erscheinen der dem greisen
(90) dr. strecker zum geburtstag überreicht werden soll* – ich glaube er kann gar nicht mehr
lesen. habe es aber so aufge‡ gemacht dass man ihn später anderweitig verwenden kann.
– habe auch gedacht dass unser briefwechsel eine ganz muntere und unterhaltsam-
lehrreiche lektüre sein könnte. hast Du meine briefe aufgehoben? (ich hab ja
keine Kopien davon) und ich habe natürlich die Deinen aufgehoben alle, schon von
den ersten anfängen der Rachel-idee. vielleicht könnte es ein hübsches Buch ergeben,
und es wäre für uns völlig mühelos. denk mal darüber nach.*
nun noch einmal zurück zum 5. tableau:* Deine textänderungen sind so gut und prima wie
ich es gewünscht hatte, und passen alle prima! – complimenti: dies ohne dass Du
die musik kennst! – passen tut es nur nicht bei der „musik“, weil die sich nicht
wiederholt (auf grund der „schrumpfung“, ich habe das wohl in meinem vorigen brief nicht
erwähnt) dafür passt es dann ganz doll bei der kunst (koloraturen!) beim ersten
mal (liebe)‡ bekommt übrigens, durch die wörter, nun die melodie einen Tristan-touch den ich
sehr komisch finde in diesem zusammenhang und der vorher versteckt war. dies ist ein
beispiel übrigens, wie sehr melodische Linien von ihrem text beleuchtet werden, und wie
sehr die beiden elemente ineinander verschränkt sind, aufeinander reagieren. interessant.
00047 Marino (Roma)
ich habe eingesehen, dass im prosa-epilog keine geräusche sein dürfen. ist bei mir
kein problem (ich hatte meine tonband-idee wegen Deiner anmerkung: draussen der
hurrikan, wollte die hechelei aus dem zirkus in einer variante bringen wo sie das
pfeifen und heulen des hurrikans darstellt, aber, um mit Brecht zu sprechen: wir brauchen
keinen hurrikan.) ich finde es gut und wichtig und richtig, dass hier stille
ist, bis die alte platte zu krächzen beginnt.* habe mich sehr bemüht, eine
wirklich hundeelende klanglichkeit dem Alhambra-orchester zu entlocken, und es gibt
auch eine möglichkeit, die platte herzustellen mit allen shortcomings (hohe
und tiefe frequenzen weg etc.) zu produzieren, siehe dazu beiliegenden brief von Ken
Bartlett * , der auch auf der suche nach pianolas und pianola music rolls ist. es scheint
leichter, an einen bischofslila Rolls Royce zu kommen, denn an eine‡ pianola Rolls.
kannst Du meine schrift lesen? ich kann nicht tippen wegen des lärms den es macht.
möchte Dir sagen dass ich sicher bin dass der ganze
schluss genau so sein wird wie
Du es Dir vorstellst. werde Dir das tonband nach
Berlin mitbringen. und wehe, wenn
Dir dann meine schnulzen nicht gefallen!
auf bald
abbracci,
hans
P.S. hörte gerade nach dem brief Mozarts
quintett
KV 254* für klavier und […]‡ bläser was Dir bei
Deinem besuch 1958 hier so gut gefiel. Du hattest recht. (wie Gödel)*
P.S. Che pena! nachts, auch nachts, nicht mehr zu rauchen wie einst (wie vulkan) und
stattdessen hunger haben und essen und dick werden, what a sorry condition! ⎯
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
Signatur: Briefe Hans Werner HenzeQuellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- Briefpapier Henze: dünnes weißes, strukturiertes Papier mit Briefkopf La Leprara (Aufdruck schwarz)
- schwarzer Filzstift
- 3 Blätter
- 3 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 290x210 [mm] (HxB)
- zweimal gefaltet (auf DinA6-Umschlag
- Brieftext geschrieben auf Blatt 90° rotiert, quer; linker Rand ca. 5 cm (1), 3,5 (2), 3cm (3), PS nach links ausgerückt (Text selbst nicht); Absätze nicht eingerückt; Anführungszeichen oben (Abweichungen angemerkt)
Material
Umfang
Zustand
Layout
Schreibstile
-
1.Handschrift, Henze, Hans Werner, Filzstift/Fineliner (schwarz).
Textkonstitution
-
"badmington"sic
-
"auf"durchgestrichen
-
"50 %"über der Zeile hinzugefügt
-
"Penderekki"sic
-
"aufge"durchgestrichen
-
"(liebe)"unter der Zeile hinzugefügt
-
"eine"durchgestrichen (unsichere Lesung)
-
eine
-
unleserliche Stelle (ca. 2 Zeichen)
Einzelstellenerläuterung
-
Ciao
- Hallo; tschüss
-
"… weder leute noch elektrisches licht."Vgl. die Beschreibung des Urlaubs von Enzensberger in dem vorausgehenden Brief.
-
Ciao
- Hallo; tschüss
-
"… Esche und Uwe aus Berlin"Hierbei könnte es sich um Uwe Kräuter handeln, auch wenn dieser seinen Lebensmittelpunkt in Heidelberg hatte.
-
Città d'Intestini
- Stadt des Darms/der Gedärme
-
"… Darmstadt ( Città d'Intestini )."Zur Uraufführung von Gaston Salvatores Stück „Büchners Tod“ vgl. auch die anderen zeitnahen Briefe des Briefwechsels.
-
"… wie auch auf Deine textikonen."Hier bezieht sich Henze auf den vorangehenden Brief Enzensbergers.
-
"… beitrags zur frage ob literatur"Gedicht von Enzensberger „Ein letzter Beitrag zu der Frage ob Literatur?“, in: Gedichte 1955–1970 S. 160f.
-
"… zum geburtstag überreicht werden soll"Es handelt sich hierbei um den Beitrag „Ein Vaudeville“ , der zuerst in: Festschrift für einen Verleger. Ludwig Strecker zum 90. Geburtstag, hg. von Carl Dahlhaus, Mainz 1973 veröffentlicht wurde.
-
"… mühelos. denk mal darüber nach."Ein solches Arbeitstagebuch ist zu „La Cubana“ im Gegensatz zu anderen Opern nicht erschienen. Vgl. aber den oben erwähnten Beitrag Henzes „Ein Vaudeville“ .
-
"… zurück zum 5. tableau :"Henze bezieht sich im folgenden direkt auf Enzensbergers vorangehenden Brief.
-
complimenti
- Kompliment!
-
"… alte platte zu krächzen beginnt."Vgl. hierzu die Regiebemerkungen vor dem Epilog (Nr. 23).
-
"… beiliegenden brief von Ken Bartlett"Dieser Brief liegt nicht mehr bei.
-
abbracci
- Umarmungen
-
"… quintett KV 254"Zahlendreher von Henze. Das Quintett mit Bläsern hat die Nummer KV 452.
-
"… hattest recht. (wie Gödel )"Anspielung auf Enzensbergers Gedicht „Hommage à Gödel“ , das im 2. Violinkonzert von Henze verwendet wird.
-
Che pena
- welche Qual!