Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 26. Juni 1969

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[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
26 Juin , 1969
Mein lieber Mang

heute kamen Kurón-Modzelewski * (und der doch recht läppische
Hildesheimer)* habe gleich angefangen, es K.-M. zu lesen, ohne dadurch
besonders lustig zu werden. Hoffmann und Campe verkünde n am Schluss
des Bandes eine gleichzeitige Neuerscheinung: Jens Litten „Eine
verpasste Revolution, Nachruf auf den SDS, Vorwort von Günter
Grass
– ich muss daran denken, dass schon vor zwei
Jahren manche (nicht einmal besonders gewitzt scheinende) Leute
die Möglichkeit solcher Nachrufe in Aussicht stellten. Oder: gestern
war ich also bei der RAI, Borelli ist jetzt in einem anderen
“organismo“, aber ich sah ihn doch, er übergab mich und
unseren Fall seinem Nachfolger (der Dich heute anrufen wollte) ich
schilderte La Canció n de Rachel und erntete grosses Erstaunen. Wie,
Enzensberger und ich, engagierte Leute, wollen plötzlich von ihrem
verwegenen Projekt zurück zu leichtem Spiel? Es war wie
ein Vorwurf, kommend von Leuten der Rechten (wahrscheinlich)
und ich liess in die Pause des Schocks die trefflichen?
Worte fallen: Ci sia consentito di divertirci di tanto in tanto.

  Erleichterung war zu spüren, es hiess auch, die anderen Sender
wären sicherlich entzückt, wäre sei doch der Grund für die
langen Verzögerungen der Praktiken nicht nur in unseren ausge-
dehnten Auslandsreisen, sondern auch in der Unruhe einiger der Euro-
vision-Teilnehmer zu finden gewesen. Nun würde sicher alles


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Marino (Roma)
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recht hurtig vonstatten gehen.*

Können wir wohl Rachel in sehr gesalzener Form vorbringen?
Kann Dir in dem Sinne Zusätzliches einfallen? Dass die
Misere Rachels gross herauskommt, ihre und die ihrer ganzen
Welt? Kann man all die Vorgänge schärfen und spitzen,
oder ist das nicht angemessen? Oder ist es schon scharf
und spitz genug?

Kaum weg, fehlst Du mir schon.* Die Freunde sind in die
ganze Welt verstreut. Begehe meine Tage allein, habe an
der Sinfonie ganz gut gearbeitet, hoffe, sie in einem
Monat wenigstens in Skizzen zu beenden. Merkwürdigerweise
kriege ich, während ich sie schreibe, Lust auf andere
Sachen. Z. B. Lieder auf cubanische Gedichte (Padilla,
Barnet, von Letzterem Fé de Erratas , und para vestir el
sueño de las hojas
) weiss nicht ob auf deutsch oder
auf Spanisch[sic] , aber könntest Du mir, in einer Minute
des völligen Otium , 10 bis 12 solche Gedichte vorschlagen,
vielleicht gar sie schicken (in zwei Sprachen – ?) damit
ich sehen kann?* Von Miguel bekam ich einen Brief*
(in Frankfurt spediert) sehr lieb, ich nehme an, Du hast
bei gleicher Gelegenheit auch einen bekommen. Dass meine
Briefe, vor über 2 Monaten, via Botschaft-Cultura geschickt,
noch immer nicht in Havanna eingetroffen sind, ist absurd. Vielleicht hat
Jesús Menendez sie eifersüchtig zurückgehalten.*


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von Buddha hab ich noch nichts gehört seit er aus
dem Gefängnis entlassen ist.* Ein Tonband hab ich von
ihm, er spricht darauf die ersten beiden Teile von
Natascha“ was über eine Stunde dauert. Komponiert
wäre da die schnellstmögliche Zeit 3 Stunden. We shall
have to cut a lot
. Ob er wohl nach Europa kommen
wird? Ich müsste ihn sprechen, Du ja wohl auch.

Ich lese weiterhin viel, es kommt nun schon öfter
vor, dass ich run into things die ich gleich erkennen bzw.
die ich ablehnen kann. Lesen lernen ist wohl sowas wie
Musik hören lernen.* Ja, und so begegne ich immer wieder
der Sache mit der Kunst als Ware. o.k. o.k. finde
es nur noch halb so schlimm, wenn ich daran denke, dass
es Länder gibt, wo sie nicht einmal das ist und wo,
wie in unserem geliebten Cuba, das Musikfestival ausfallen musste,
aber Schnulzensänger aus dem Ostblock zu einer Gesamtsumme
von 30.000 Dollars eingeladen wurden (Honorare!) dies weiss
ich von Leo Brouwer. Oder wo Bonzen entscheiden, was gelesen
und gespielt werden darf und was nicht. Werde aber sehr
still bei diesen Gedanken, bemerke ein verzweifeltes Suchen
nach Positiva. Alles ist schief, verwackelt, verrutscht. Ver-
wegene wollen zurück ins Schweigen. A considerable amount
of boredom is in front of us
. Sollten wir Fortschritte
machen, wohin gehen sie nun? Warum kann ich nicht mehr


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an Fortschritte denken, wie leer ist es nun (ich habe
keine Masha) und wie kann ich oder wer kann den Kompass reparieren?

Den Quatsch vom Ende der Musik kann und will ich
mir nun auch nicht mehr anhören. Er wird immer von denen
verkündet, die Musik nicht selber schreiben. Im Grunde interessieren
mich nicht einmal die “Analysen“. Und I ch will ja auch nicht die
Revolution weil ich etwa nicht mehr schreiben kann oder vögeln, sondern
weil ich mir darunter vorstellte und vorstelle die Abschaffung von
so vielen Formen der Unterdrückung. Aber wo wir waren, auch da
gibt es ja solche Formen, und es genügt nicht, sich auszudenken,
dass es verschiedene Ursachen gibt, die sie einstweilen nötig
machen. Dieses „einstweilen“ verlangt eine Art von Enthusiasmus
und Selbstverleugnung die immer wieder her muss wenn die Praxis
so gar nichts aufzeigt woran man sich halten kann. Aber
trotzdem will ich nach Cuba zurück, mehr davon sehen. Brecht
schrieb damals, als Gide enttäuscht aus der Sowjetunion zurück-
kam, Gi de habe dort etwas gesucht was er gar nicht hätte finden
können (er sagt es besser, ich kann es jetzt nicht finden,
es ist in einem der 3 letzten Bände der Suhrkamp Ausgabe)*
übrigens sobald man Brecht liest, wird einem besser, was
auch zutrifft, wenn man Enzensberger liest.

  Ich benutze jetzt dieses Vakuum um möglichst viel zu schreiben,
sodass ich dann wieder reisen kann – habe viele Pläne
viele Pläne viele Pläne. Nach der Sinfonie den Cimarrón, später
Natascha Ungeheuer, dann Rachel. Rachel können wir gut ver-


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wenden (und sollten sie gleich so anlegen) für das Theater
(mit Mimen und Ballett und Sprechern Schauspielern, und ich
kann die Musik der textlosen Szenen ja auch im Konzert
spielen später dann –)

     Als alles noch nicht so genau gewusst war, weniger wissen-
schaftlich war, mehr mit Träumen verbunden, da war es
besser. Jetzt wo wir “alles schon wissen“ ist alles auch etwas
bitter, ich meine nicht das Harte und Schwere, ich meine
nur das Verbot der Träume, und die „Banalität“ der
Wirklichkeit. Aber man kann in die Richtung, aus der man
gekommen ist, nicht zurück, vielleicht geht aber diese Richtung
weiter nach vorn, nur dass wir dieses nun wirklich “nicht
schon wissen“ sondern dass wir weiter fragen müssen, und im
Dunkel weiter gehen.

Warum sage ich das alles?

Lass uns bitte in Kontakt bleiben, lass mich auch immer
wissen, was los ist, wenn was los ist.

           Abrazos, Tambien a Masha hans

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Leprara DinA5
    • Faltung: alle Blätter waren zusammen zweimal gefaltet auf Din-lang klein
    • Umfang

    • 5 Blätter
    • 5 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 250x170 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Absätze ohne Einrückung und ohne Abstand
    • Anführungszeichen unten oben
    • Rand: 2 bis 2,5 cm
    • Seitenzahlen ab Seite 2 oben, nach rechts ausgerückt, neben dem aufgedruckten Briefkopf.

Schreibstile

Textkonstitution

  • "K.-M."über der Zeile hinzugefügt
  • "n""t" überschrieben mit "n"
  • "n""ne" durchgestrichen und ersetzt mit "n"
  • "… La Canció n"Henze hatte wohl Cancione geschrieben und dann korrigiert auf Cancion und dabei auch den Akzent auf dem o nachgetragen.
  • "wäre"durchgestrichen
  • "einiger"über der Zeile hinzugefügt
  • "Spanisch"sic
  • "in Havanna "über der Zeile hinzugefügt
  • "oder wer kann"über der Zeile hinzugefügt
  • "Und"durchgestrichen
  • "I""i" überschrieben mit "I"
  • "ja"über der Zeile hinzugefügt
  • "etwa"über der Zeile hinzugefügt
  • "Gi""er" überschrieben mit "Gi"
  • "Sprechern"durchgestrichen
  • "später"über der Zeile hinzugefügt
  • "Warum sage ich das alles?"durchgestrichen
  • "… hans"Der erste Buchstabe von „hans“ mit langem Abstrich.

Einzelstellenerläuterung

  • Juin
    • Juni
  • "… heute kamen Kurón - Modzelewski"Gemeint ist wahrscheinlich die gemeinsame Publikation: Monopolsozialismus : Offener Brief an die Mitglieder der Grundorganisation der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und an die Mitglieder der Hochschulorganisation des Verbandes sozialistischer Jugend an der Warschauer Universität. Übertragung aus dem Polnischen, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Helmut Wagner, Hamburg: Hoffman und Campe, 1969.
  • "… doch recht läppische Hildesheimer )"Es lässt sich schwer ermitteln, welchen Text von Wolfgang Hildesheimer Henze hier erhalten hat. Es könnte sich um den Artikel "’Sauber ist nicht schön’. Zu Christian Enzensbergers ’Größerer Versuch über den Schmutz’", der am 5. Januar 1969 im „Spiegel“ erschienen war, handeln, aber auch um den Band „Interpretationen. James Joyce, Georg Büchner, zwei Frankfurter Vorlesungen“, der 1969 bei Suhrkamp erschien.
  • Ci sia consentito di divertirci di tanto in tanto.
    • Wir sollten uns ab und zu auch mal amüsieren dürfen.
  • "… 2 recht hurtig vonstatten gehen."Offensichtlich hatten sich Henze und Enzensberger bei dessen Besuch in Marino Anfang Juni 1969 endgültig geeinigt, nicht mehr die Idee einer „neuen“ Oper zu verfolgen, sondern wiederum einen dokumentarischen Stoff von Miguel Barnet aufzugreifen, diesen aber jetzt „als leichtes Spiel“ darzustellen.
  • "… weg, fehlst Du mir schon."Wie ein Telegramm an Christian Enzensberger belegt, war Enzensberger bis zum 11. Juni 1969 in Marino.
  • [Latein] Otium
    • Muße
  • "… ?) damit ich sehen kann?"Dies sind erste Überlegungen zu Voices. Die beiden hier genannten Gedichte von Miguel Barnet wurden später nicht in die Sammlung aufgenommen, doch basiert der 2. Satz von Henzes 6. Sinfonie auf „Fé de Erratas“.
  • "… Miguel bekam ich einen Brief"Dieser Brief scheint sich nicht erhalten zu haben.
  • "… Jesús Menendez sie eifersüchtig zurückgehalten."Vgl. hierzu Henzes Telegramm an Barnet vom 27. Juni 1969.
  • "… aus dem Gefängnis entlassen ist."Vgl. hierzu den Brief von Enzensberger vom 9. Juli 1969. Enzensberger schreibt im Nachruf auf Gastón Salvatore in „Die Zeit“ Nr. 51 (17. Dezember 2015): „Zusammen mit seinem Freund Rudi Dutschke klagte sie [= die Staatsanwaltschaft] ihn 1969 wegen schweren Landfriedensbruchs an. Nach der Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe musste Gaston nach Italien fliehen.“ In den biographischen Angaben seines Verlages (Wallstein Verlag Göttingen) ist angegeben, dass er sich der Verurteilung durch Flucht nach Italien und weiter nach London und Chile entzog. Dennoch spricht Henze hier von einer Entlassung aus dem Gefängnis.
  • "… sowas wie Musik hören lernen."Zu Beginn der Korrepondenz mit Enzensberger ab 1967 hatte Henze mehrfach betont, dass er viel lesen und lernen müsse.
  • "… letzten Bände der Suhrkamp Ausgabe)"1972 zitiert Enzensberger ebenfalls die Kritik Brechts („Kraft und Schwäche der Utopie“) in seinem Artikel „Revolutions-Tourismus“ in: Kursbuch 30 (1973), S. 155–181: „Er fuhr los wie jemand, der ein neues Land sucht, müde des alten, zweifellos begierig, seinen eigenen Glücksschrei zu hören, aber was er wirklich suchte, war sein neues Land, nicht ein unbekanntes, sondern ein bekanntes, nicht eines, das andere, sondern eines, das er selber gebaut hatte, und zwar in seinem Kopf. Er fand dieses Land nicht. Es liegt anscheinend nicht auf diesem Planeten.“ (S. 170).
  • Abrazos, Tambien a Masha
    • Umarmungen auch für Masha

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        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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