Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 1. August 1972

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[Typoskript]

Berlin den 1. August [1972] *
Jour du patchouli
Lieber Hans,

eben bin ich zur Post geeilt, um deinen sehr duftenden Brief*
auszulösen. (Eingeschriebene Sachen muß ich fast immer abholen, da zur
frühen Postzeit niemand wach ist, daher lieber gewöhnliche Post – die
raccomandata verzögert alles um zwei bis drei Tage.)

Ich saß in der öden Schalterhalle, weil draußen ein Gewitter niederging,
und erregte die erboste Verwunderung der dort versammelten verbitterten
Rentner und Hundezüchter, durch Ausrufe des Entzückens und plötzliche
Ausbrüche von Gelächter, umso lauter je weiter ich las. Dazu noch die
geradezu unanständige Sinnlichkeit des Duftes, der mich einhüllte – das
alles ist in deutschen Postämtern not done .

Entzückt bin ich nicht nur darüber, daß du Rachel nun beinah vollkommen
zu ihr selbst verholfen, sondern auch, daß du dich so weit verändert
hast beixxx im Verlauf dieser Tondichtung; oder scheint es mir bloß so,
als wärst du leichtfüßiger, vergnügter und mit jener Weisheit begabt,
ohne die wir schlechterdings nicht auskommen werden in absehbarer Zeit
und die darin besteht, einieg[sic] Leute und Sachen einfach nicht mehr an
uns herankommen zu lassen? Ich denke nicht, daß das mit Resignation
zu verwechseln wäre. Ein paar Ingredenzien dieser sogenannten Weisheit –
wir können sie mein e twegen gern auf einundxxxxxx einen andern Namen taufen –
sind in meinen Augen: der Entschluß uns unter keinen Umständen in die
eigene Tasche zu lügen, auch nicht anxx nach der linken Manier; das Beharren
auf unserm Recht die Sachen zu Ende zu denken, auch wenns den Genossen
nicht paßt – den andern passen wir ohnehin nicht; und die geradezu buddha-
hafte Ruhe gegenüber unsern detractores und r ezensenten – die mögen sich
ihre Zeilenhonorare bei der Kasse abholen, mehr ist dazu wohl kaum zu
sagen. Ich bin immer weniger geneigt mir meine Vorliebe für Inhalte vor-
werfen zu lassen und die Vorschriften des Kulturlebens einzuhalten. Je
mehr Leute sich mit unsern Sachen unterhalten umso besser. Je mehr in dem
was wir machen passiert, vorkommt, sich regt umso besser. Im Schauhaus
der Avantgarden bringe ich keine Minute mehr freiwillig zu. Dort, meine
ich, sollten wir auch das schlechte Gewissen zurücklassen das uns einzureden
man nicht müde wird. Es kann schon sein daß wir nicht me h r zu retten sind –
ab e r wenn, dann durch Selbstzensur auf keinen Fall, auch nicht durch
die handelsüblichen Selbsttäuschungen. So denke ich und stelle fest, daß
mir in dieser Geistesverfassung mehr einfällt als sonst. Wenngleich ich
zugeben muß, daß ich in der letzten Zeit weit weniger fleißig war als du
und nicht eben viel vorzuweisen hätte, wenn man mich fragt.


Ich bin von deinem ausführlichen Arbeitsrapport gan-[sic] hingerissen. Das ist
alles so gedachtxxxxxxx präzis gedacht und fügt sich so wohl ineinander, daß
ich dein Metier nur bewundern kann. Deine Leichtigkeit ist doch ein
gutes Zeichen, laß dir nur ja nie das Gegenteil einreden!

Alles was im Zirkus-Tableau präzisiert ist, leuchtet vollkommen ein.
Mit der Durchkomposition bin ich sehr einverstanden; sie verhindert auch
unerträgliche Regieeinfälle, Auswalzen der Zirkusnummern usw. Ich freue
mich schon auf den indonesischen Affentanz. Ein treat besonderer Art...
Von den Trommeln und Schlagzeugen sind schon die Namen eine Freude. Warum
das Chanson das Chanson heißt und nicht die ist gar nicht einzusehen.
Es heißt aber seit vielen Jahrzehnten so und wir können es nicht ändern
ohne daß es sich gespreizt anhören würde.

Was nun die der das Chanson am Ende des Tableaux[sic] betrifft, die Aufteilung
ist gut, der Sturzflug auf Weill ist kühn und riskant aber wenn die Musik
es schafft wieder herunterzukommen (oder vielmehr ux hinauf, kräftig
durchstarten und ab in die Wolken), so scheint mir das nicht nur möglich
sondern wünschenswert – schließlich kennen wir den Genossen Weill und
das Publikum kennt ihn auch, das zuzugeben, einen fernen Gruß und dann
aber Ade Mein Lieber ihm zuzurufen ist schon sehr gut und souverän. Nur
der Schluß dürfte dann von Kurtchen aber auch nicht die Spur enthalten,
keine Nuance, sondern müßte sich ganz anders anhören. Geht das?
Bei Eusebios Liebestod haben wir nun so viel gestrichen, nämlich zwei
Strophen für beide Stimmen, daß man das offenlassen kann – man könnte ja
beispielsweise eine von beiden behalten, ad libitum .

Jetzt noch zum armen Gödel, dessen Kopf man, wenn man Princeton besucht,
manchmal für einen Augenblick hinter einer Hecke vorbeiziehen sieht. Er
sieht so aus als höre und sehr er nichts mehr, aber das kann auf einer
Täuschung beruhen. Über Schotts ärgere ich mich natürlich nicht wirklich –
das wäre gegen meine Prinzipien, die oben erläutert sind. I just go through the
motions
, weil man das muß um nicht gef l ed d ert zu werden. Die Änderungen
im englischen Text, die du vorschlägst sind samt und sonders ausgez ei chnet*
und stimmen im übrigen groenteils[sic] mit denen überein die ich Herrn Strecker--
Bartlett* meinerseits angegeben habe, offenbar ohne daß er es für nötig
gehalten hätte sie an dich weiterzugeben. Vor allem aber muß das Wort exist
wie du natürlich bemerkt hast unter allen Umständen eingesetzt werden da
sonst der ganze Satz unverständlich und sinnlos wird. Wirst du die Änderungen
deinerseits in die endgültige Partutur[sic] übertragen? (Auf dich hören sie ja noch
eher als auf mich.)


Schön wäre es ja sicherlich wenn du dazu kämst ein paar Gedichte zu komponieren*
hast du Zeit dafür? Du bist ungeheuer produktiv. Das will natürlich, was die[sic]
Text angeht, wohl überlegt sein, damit die nötige Kohärenz des Ganzen zu
standekommt. Ich sehe es noch nicht ganz. Denken könnte ich mir auch,
daß man einmal den umgekehrten Weg ginge, nämlich ausgehend von einer
kompositorischen, musikalischen Idee einen Text zu machen. Das sollte aller-
dings ein Autor machen der einige Kenntnis in der Technik der Komposition
hat. Warum denn eigentlich muß der Text immer zuerst da sein?

(Wegen Schott und der "Rechte" brauchen wir uns natürlich keine weiteren
Sorgen zu machen; am besten läßt man diese Sachen zwischen Schott und Suhr-
kamp
abmachen, und wir reden dann nur über die Sachenx selbst und nicht
über diese juristischen Fortsätze- sollen doch die sich streiten die
an uns verdienen!)

Wenn es mit unserm T r effen im Monat September etwas wird, sollten wir
auch darüber länger konversieren. Die Reise müßte allerdings, da ich
recht bankrott bin, die NET bezahlen.*

Ach ja die NET. Ich habe starke Z w eifel daran daß daraus noch etwas wird.
Denn der Herr Adler stellt sich mit einer Hartnäckigkeit taub die allen-
falls in einem frühen Stummfilm erlaubt wäre. ich schicke dir eine Kopie
seine s letzten Briefchens an mich. Darauf werde ich nicht antworten. Der
Brief soll uns offenbar auf beliebige Eingriffe der NET in den Text vor-
bereit e n (our particular "style" – das kann ich mir schon vorstellen!).
Wir sollten verlangen, daß das englische Buch vor Beginn der Produktion
dx hier in Europa durchgesprochen wird. Es muß von uns genehmigt werden.
Im übrigen hängt diese Forderung auch mit deiner Regie- A uf s cht zusammen,
die NET offenbar auch nicht akzeptieren will. Ich habe ziemliche Zweifel,
ob wir mit denen überhaupt zu einem Resultat kommen.

Jetzt geht mir die Luft aus und der Brief endet ein wenig plan.

Die Rede des Theaterdirekto[r]s[sic] kann gekürzt werden, wichtig ist mir nur,
daß der Titel des Stückes genannt wird, und daß klar wird, daß das Alhambra
nicht wie das Tivoli als irgendein Tingeltangel, sondern als Tempel der
wahren Kunst gilt – du verstehst!

Die Gewitter hier sind ganz herrlich. Ich bin hier so isoliert wie du in
Marino, besonders da Gaston seit Wochen verreist ist. Wo kauft Fausto
euer Patschouli? Ich finde gar nicht daß dies ein geschmackloses Parfum
ist. Wann sehen wir uns? Werden wir Zeit und Ruhe haben und nicht von
Idioten gestört werden? Ahc[sic] , das wäre angenehm. Wir könnten uns viele
neue Sachen ausdenken.

Ich danke dir, beneide und umarme dich und wünsche uns und unserer Patchouli-
Dame Glück dein m

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dickeres helles Briefpapier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 3 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x210 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Die jeweils letzte Zeile auf dem ersten und dritten Blatt sind nach unten verrutscht.

Schreibstile

Textkonstitution

  • "bei"gelöscht durch Überschreibung
  • "e""t" überschrieben mit "e"
  • "einund"gelöscht durch Überschreibung
  • "an"gelöscht durch Überschreibung
  • "r""R" überschrieben mit "r"
  • "h""r" ersetzt durch "h"
  • "e""r" überschrieben mit "e"
  • "gedacht"gelöscht durch Überschreibung
  • "u"gelöscht durch Überschreibung
  • "l""f" überschrieben mit "l"
  • "d""r" überschrieben mit "d"
  • "ei""ie" überschrieben mit "ei"
  • "n"gelöscht durch Überschreibung
  • "r""-" überschrieben mit "r"
  • "w""e" ersetzt durch "w"
  • "s""a" ersetzt durch "s"
  • "e""n" ersetzt durch "e"
  • "d"gelöscht durch Überschreibung
  • "A""Q" ersetzt durch "A"
  • "s""i" ersetzt durch "s"
  • "Theaterdirektors"sic
  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus

Einzelstellenerläuterung

  • "… Berlin den 1. August [1972]"Da der Brief auf Henzes Brief von Ende Juli 1972 reagiert, muss dieser Brief ebenfalls aus dem Jahre 1972 sein.
  • Jour du patchouli
    • Tag des Patschuli
  • "… um deinen sehr duftenden Brief"Henze hatte seinem letzten Brief, wei er erwähnt, Patschuli-Blätter beigelegt.
  • raccomandata
    • Einschreiben
  • "einieg"recte "einige".
  • detractores
    • Kritiker, Verleumder
  • "gan-"recte "ganz".
  • "Tableaux"recte "Tableaus".
  • ad libitum
    • zur freien Verwendung
  • "… und sonders ausgez ei chnet"Vgl. die Beilage zum Brief vom 24. Juni 1972.
  • "groenteils"recte "großenteils".
  • "… die ich Herrn Strecker- Bartlett"Enzensberger mischt hier zwei Namen aus dem Hause Schott: Ludwig Strecker und Kenneth Walter W. Bartlett.
  • "Partutur"recte "Partitur".
  • "… ein paar Gedichte zu komponieren"Vgl. die Überlegungen zu den Voices im vorangehenden Brief von Henze.
  • "die"recte "den".
  • "… bankrott bin, die NET bezahlen."Dieses Treffen fand nicht statt. Enzensberger und Henze trafen sich erst wieder im Oktober 1972 zur Premiere von Gastón Salvatores "Büchners Tod".
  • "Ahc"recte "Ach".

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