Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 12. August 1972

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[Manuskript]

La Leprara
00047 Marino (Roma)
12. August 72
Lieber Mang,

das ganze Alhambra-tableau ist nun fertig, auch der chor der
zeugen
am ende (mit einem bonbardon-solo das die umkehrung
des hauptthemas von Mahlers 4. darstelltx xund einem
solo der mundharmonika!
) wir nähern uns
ferragosto *, man muss die arbeitsstunden ganz früh legen
und ganz spät, und sich ansonsten ruhig verhalten. wenn
übermorgen früh die Alhambra-musik auf die post geht, dann
bleibt mir nur noch der schluss des stücks, und der ist
grösstenteils komponiert. das pianola soll auch allein spielen
von zeit zu zeit (so will kann Dein hinweis im anfang
des 5. tableau verstanden werden) und da macht es lauter
reminiszenzen an melodien aus den früheren bildern, sozusagen
Rachels evergreens.

Also das Alhambra *: habe mir gedacht, weil es doch
theater auf dem theater ist, da muss es anders sein als
die anderen tableaux. und man muss verstehen, nicht durch
die rede des theaterdirektors, sondern durch das theater selbst,
dass dies Rachels grösste zeit ist. dann ist der text
so ein Courts-Mahler kitsch des frühen jahrhunderts (oder
bilde ich mir das ein, weil ich ja nie C.-M. gelesen habe?)
im nachhinkenden Cuba aber erst gerade heute, 1927, en vogue.
auch habe ich mir den komponisten vorgestellt: der hat
gar nicht gemerkt was für einen text er da hat, und war
so begeistert von der chance, für die künstlerin Rachel ein
“schauspiel“ (oper) (operette) (vaudeville?) ja, ein vaudeville!


La Leprara
00047 Marino (Roma)
zu schreiben dass er sich grösste mühe gegeben hat, aber auch
alles hineingebuttert, was ihm einfiel. So fängt der Ball
also an mit einem Walzer. ohne es zu wollen, zieht
der komponist hier eine ganze masse (musik-)literatur herunter
auf sein bescheidenes niveau, wodurch sehr viel „unfreiwillige
Komik“ entsteht. Rosita und Alberto singen (wodurch sich
auch die partien von Eusebio und Lucile etwas erweitern) so im
Léhar-parlando (kann mich so ein bisschen an diesen stil
erinnern dank meiner korrepetitorenzeit am stadttheater bielefeld)*
man wird also alles verstehen. und es ist so ein rhapsodischer
stil, as opposed to der “geschlossenen nummer“, Magdalenas Tango
(in dem sie männerstimme imitiert, es aber manchmal vergisst,
was niemanden zu stören scheint) – dem dann (auf die
worte „ich werde dich strafen“ ein Ragtime folgt (der
auch Charleston-Element hat) und das Habana von 1927
meint, und nun die ganzen zwei bis Drei-deutigkeiten begleitet
was ich wahnsinnig komisch finde weil der komponist an meinem Morionettenfaden es ernst ge-
meint hat und ihm nicht aufgefallen ist dass dadurch alles
visible wird aber gleichzeitig auch wiederum ein beispiel für
“camp“ zu das Suzan Sontag es in ihrem essay hätte anführen sollen. können. *
(obwohl camp meist eigentlich noch nicht beabsichtigt absichtlich sein darf, wenn ich recht
verstehe)* von der striptease-apotheose* sage ich Dir nichts weil
meine bescheidenheit es mir verbietet (ha ha), Du wirst sie
ja hören. das ganze, glaube ich, ist ein richtiger grosser tingeltangel
geworden und mehr als parodie. mir scheint es war wichtig, mit
etwas mehr geschütz aufzufahren hier (das orchester, ca. 15 leute,
meist ehemalige zirkusmusikanten, plus 3 geiger für den Léhar-touch)
sitzt in einem richtigen „graben“ aber natürlich nicht in dem des theaters.
La Leprara
00047 Marino (Roma)
3
bitte überlege Dir die sache nochmal mit der rede des zirkus- theater-
direktors
, sie scheint mir (wie ich Dir am telephon sagte)
nicht nötig weil

1) alle information über das niveau des publikums aus der
handlung in Rachels garderobe hervorkommt

2) der titel des “werks“ entweder im garderoben-gespräch
erwähnt werden könnte oder aber, was durchaus realistisch
wäre, auf den vorhang der Alhambra gemalt.

und mir würde es so gefallen, wenn es von Federicos „der
Zettel! der Zettel!“ direkt in den blöden Walzer
(der Millionen [!!])
ginge – see what I mean? es gibt
dann einen ruck, etwas brüskes und sowas wie “die kunst
hat keine Zeit“ und etwas über die bedeutung unseres stücks
würde so auf eine andere neue weise deutlich (so scheint mir)*

Hough, der dramatiker hat gesprochen.

ein paar weitere, abschliessende beobachtungen werde ich Dir
noch mitteilen, wenn die letzte note in saubrer schrift
auf [unlesbares Wort] dem papier steht. deine idee, dass das ganze ding
aufhört mit mechanischer musik (pianola und schall-
platte) ist wirklich ungeheuerlich.*

übrigens habe ich hier und da schon mal getimed: Eusebios
liebestod
dauert nur 6 minuten. die ganze Alhambra-oper
dauert knapp 10 minuten! ich glaube wir brauchen nicht
zu fürchten, dass es längen gibt.

keine angst dass ich zu kurtchen hinschau beim schluss.*
es ist schön, wenn alles, wie ein rätsel, sich löst, things
fall into place
. der spielbaukasten. es ist eine enorme be-
friedigung. für mich kommt noch dazu, dass ich dergleichen


La Leprara
00047 Marino (Roma)
4 /
musik nicht geglaubt habe schreiben zu können (daher auch mein
zögern voriges jahr)

o fri wol ist mir am abend.*

es gefällt mir, was Du sagst über das schauhaus der avantgarden*
wo wir unser schlechtes gewissen niederlegen zurücklassen sollen. ich wollte das meine
eigentlich eher einem kräftigen südwind anvertrauen um gar nichts
mehr zurückzulassen, aber wenn Du willst, lege ich es auch im
schauhaus der avantgarden nieder. es ist politischer. ich hab ja schon
oft versucht, mich zu befreien, man ist dann sehr isoliert aller-
dings, braucht dringend einige gute freunde. e poi, l’amore. von
der ich freundlicherweise in diesen wochen und monaten heimgesucht
bin was den komponierprozess zweifellos akzeleriert akzelieriert
hat.

hu! big news!: Partagas ist auf der letzten silbe betont, ich
habe die spanische botschaft angerufen. dies rettet Magdalenas
Tango!
*

ja, es ist wichtig die politischen dinge weiterzudenken, ich bemühe
mich sehr (habe viele gespräche mit jungen KPI leuten) brauche
zeit und geduld. sehe und höre vieles das mich ärgert weil
es ohne realitätssinn gemacht wird (damit meine ich nicht die KPI)
und sehe in einer linken zukunft so wie sie sich vorgestellt
wird, immer wieder den schnauzbart von J.S. und der muss
aber weg! ausserdem möchte ich nicht dauernd an diese
sachen denken. möchte, ganz wie Du, nicht belästigt
werden, besonders nicht von denen die glauben jede eigene note
mit Carlos Marx rechtfertigen und vor allem: beweisen zu können.

mich dünkt dass auch in diesem sinne unsere freundin aus
Habana
einiges mitzuteilen hat. z.b. „ich spiele stets vabanque
in der musik!“ * da ist natürlich die Aleatorik gemeint. und so.


La Leprara
00047 Marino (Roma)

5 /
wieviel dummes zeug doch über unser stück schon gesagt worden ist
ohne dass es einer richtig gekannt hat (Gastón, der hat
es natürlich gleich verstanden) und dies war weil es anders ist
als der markt es hever will, auch der “linke“ Markt und
weil sich keiner vorstellen kann dass man auf lustige und
nicht anödende art, ja geradezu volkstümlich (also auch zu diesem
thema problem ist es ein beitrag) ein vernichtend ernstes
thema behandeln kann und belehrend sich verhalten ohne einen
zeigefinger zu erheben und vor allem ohne sich selbst über die
anderen, die nicht-künstler, die nicht-intellektuellen, zu
erheben.

nun muss ich nach Bracciano fahren und Maurizio am Kasernentor
abholen. Trotz enormer Hitze tu ich das sehr gern, so
grüsse ich Dich nun, lieber Mang, und melde mich wenn
alles fertig ist. (ich meine, mit der Musik)

vergass die Amis zu erwähnen. lasse es dabei, wir wissen
ja bescheid. schott soll alles machen. ich glaube,
nächste woche wird Peter Hall sich bei mir melden.

Love
ich umarme uns –
hans

P.S. Pachouly
beziehen wir aus Florenz.
What about die schreibweise?

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: mittelblaues dünnes Briefpapier, fw oben in der Mitte eingedruckt
    • WZ: das stempelartige "- PINEIDER – FIRENZE · ROMA", Stegabstände ca. 2,6-2,7cm
    • 2mal gefaltet auf Dinlang
    • Umfang

    • 5 Blätter
    • 5 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 298x216 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • der zuerst verwendete Stift gab nicht mehr sehr viel Farbe ab
    • Layout

    • im oberen rechten Bereich von Henze mit demselben Stift Seitenzählung angebracht, "2" bis "4" der schwarze Filzstift, "5" der blaue; jeweils \ darunter; auf S. 1 add am linken Rand, von oben lesbar; Achtung: die beiden mit 1) und 2) nummerierten Absätze auf S. 3 ca. 10 Buchstaben eingerückt, die Ziffern stehen etwas nach links raus; alle anderen Absätze bis auf den 2. nicht eingerückt
    • linker Rand 2cm, auf S. 3 ca. 2,5cm

Schreibstile

Textkonstitution

  • " xund einem solo der mundharmonika!"am linken Rand hinzugefügt
  • "will"durchgestrichen
  • "pendantisch"sic
  • "ausdrucklos"sic
  • "erst"über der Zeile hinzugefügt
  • "(musik-)"über der Zeile hinzugefügt
  • "an meinem Morionettenfaden"über der Zeile hinzugefügt
  • "zu"durchgestrichen
  • "das"über der Zeile hinzugefügt
  • "es"durchgestrichen (unsichere Lesung)
  • es
  • "sollen."durchgestrichen
  • "können."über der Zeile hinzugefügt
  • "meist"durchgestrichen
  • "eigentlich"über der Zeile hinzugefügt
  • "noch"durchgestrichen
  • "… (obwohl camp meist eigentlich noch"Das gestrichene Wort kann auch „auch“ heißen.
  • "beabsichtigt"durchgestrichen
  • "absichtlich"über der Zeile hinzugefügt
  • "(ha ha)"durchgestrichen
  • "in"über der Zeile hinzugefügt
  • "zirkus-"durchgestrichen
  • "theater-"über der Zeile hinzugefügt
  • "[""(" überschrieben mit "["
  • "eine"über der Zeile hinzugefügt
  • "neue"über der Zeile hinzugefügt
  • "Hough, der dramatiker hat gesprochen."durchgestrichen
  • "[unlesbares Wort]"durchgestrichen
  • "dem"über der Zeile hinzugefügt
  • "niederlegen"durchgestrichen
  • "zurücklassen"über der Zeile hinzugefügt
  • "eher"durchgestrichen
  • "akzeleriert"durchgestrichen
  • "… was den komponierprozess zweifellos akzeleriert"In der zweiten Worthälfte war eine Überschreibung, so dass das Wort nicht gut lesbar war, weshalb es Henze wohl gestrichen und dann fehlerhaft wiederholt hat.
  • Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (schwarz), Henze, Hans Werner
  • "… mich dünkt"Henze wechselt hier wohl sofort wieder den Stift, weil er zu dick schreibt.
  • Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (blau), Henze, Hans Werner
  • "hever"unsichere Lesung
  • "thema"durchgestrichen
  • "(ich meine, mit der Musik)"in der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Filzstift/Fineliner (orange), Henze, Hans Werner
  • Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (orange), Henze, Hans Werner
  • "beziehen"unsichere Lesung

Einzelstellenerläuterung

  • "… ) wir nähern uns ferragosto"15. August: Mariä Himmelfahrt.
  • "… Also das Alhambra"Henze notiert zu Beginn der Nr. 15, dem ersten Stück der Alhambra-Szene, im Klavierauszug: „der ganze „akt“ muß im stil der zarzuela interpretiert werden. die instrumentalmusik (damenkapelle) pendantisch[sic], ausdrucklos[sic] (mit falschem pathos) ohne „augenzwinkern“ ohne „tongue in the cheek“ senza „leccarsi i baffi“. der gesang molto parlando, etwa wie in dramatischen rezitativen bei Léhar. jedes wort muß verstanden werden. nur Magdalenas tango wird voll ausgesungen. das orchester (damenkapelle) im „graben“ des alhambra, dirigent und instrumentalisten in frack (oder weißem smoking).“ S. 193.
  • en vogue
    • in Mode
  • "… korrepetitorenzeit am stadttheater bielefeld )"Henze war unmittelbar nach dem Krieg Korrepetitor am Stadttheater Bielefeld.
  • "… essay hätte anführen sollen. können."Henze bezieht sich hier auf den bekannten Essay von Susan Sontag Notes on Camp, der 1964 erstmals in der Zeitschrift „The Partisan Review“ erschien und dann in der Essay-Sammlung „Against Interpretation, and other Essays“ New York 1966 große Verbreitung erlangte. Die deutsche Übersetzung „Anmerkungen zu Camp“ erschien 1968 erstmals in der Übersetzung von Mark W. Rien in dem Sammelband „Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen“ im Rowohlt Verlag Reinbek.
  • "… darf, wenn ich recht verstehe)"In dem Essay von Susan Sontag, in dem nach einer Einleitung in 58 Punkten versucht wird, sich der Erlebnisweise „camp“ zu nähern, wird unter Punkt 19 gesagt: „Die reinen Beispiele für Camp entstehen, ohne daß ihre Urheber die Absicht haben, etwas zu schaffen, das als Camp gedeutet werden könnte.“ Susan Sontag, „Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen“, Frankfurt 1968, S. 269–284, hier S. 275.
  • "… recht verstehe) von der striptease-apotheose"Vgl. Nr. 18 English Waltz. Während die Musik vorher sehr schlicht in C-Dur komponiert ist, steht dieser Walzer in Fis-Dur. Henze macht dazu die Anmerkung: „... habe es gut gehabt, er habe bloß die damals unabgegriffene Tonart Fis-Dur zu greifen brauchen, und schon sei es schön gewesen; ...“ (Theodor Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970)“ Klavierauszug S. 219.
  • "… weise deutlich (so scheint mir)"Enzensberger stimmt dem Vorschlag zu, vgl. dessen Brief vom 27. August 1972.
  • "… schall platte) ist wirklich ungeheuerlich."Da Enzensberger diese Idee, die Henze umgesetzt hat, in seinem Brief vom 1. August nicht erwähnt, scheint er sie in dem von Henze erwähnten Telefonat geäußert zu haben.
  • "… zu kurtchen hinschau beim schluss."Vgl. hierzu Enzensbergers Äußerungen in seinem Brief vom 1. August.
  • "… wol ist mir am abend."Anspielung auf den Beginn des Volksliedes „Oh wie wohl ist mir am Abend“ .
  • "… über das schauhaus der avantgarden"Vgl. den vorangehenden Brief von Enzensberger vom 1. August 1972. Henze greift diese Überlegungen in seinem Artikel „Ein Vaudeville“ auf.
  • e poi, l’amore
    • und dann die Liebe
  • "akzelieriert"recte "akzeleriert".
  • "… angerufen. dies rettet Magdalenas Tango!"Der Tango von Magdalena endet mit den Worten „Patschouly Partagas mein Duft und mein Rauch, ein Gedicht in der heißen Luft, dieser Rauch, und das spürst du nicht?“. Partagás sind cubanische Zigarren.
  • "… stets vabanque in der musik!"Vgl. Rachels Illusion II (= La Cubana Nr. 22).

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