Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 3. September 1968

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[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
3. September schon [1968] *
lieber Mang

von Gaston weiss ich Du bist nun wieder in Berlin.* Er
wird auch in einigen Tagen dort sein. Wir werden uns
also sehen, mehrfach, bevor Du nach Cuba gehst.* Ich konnte
nicht mehr nach Tjøme weil es hier etwas schwierig
wurde mit Geheimpolizisten die hysterisch wurden und mit
einem sehr unruhigen Rudi.* Dann sollte ich ja nun eine
Sinfonie
machen, aber es setzten wieder die Störungen im
Gehirn ein, Schwindel und Übelsein und dergleichen, sodass ich nun
überhaupt nichts schreiben werde sondern in einigen Tagen nach
Apulien und Sizilien fahren werd, schwimmen und Nichts tun, was
etwas ist das ich sehr mag nur nie durchführe. Aber diesmal
werde ich es schaffen. Nehme das neue Kursbuch * mit, das gerade
angekommen ist und voll mit aufregenden Sachen (die mich etwas
bedrücken weil ich so wenig weiss und das Lernen mir schwer-
fällt)

also auch ich habe mein „Soll“ nicht erfüllt. Dadurch fällt es
mir leicht, Dich zu trösten wegen der noch nicht geschriebenen
Opera. Vielleicht ist das alles ganz richtig so. Es gibt uns
Zeit, die Sachen weiterhin zu bedenken. Und vielleicht kommen wir
doch zu einer Form von Aufbrechung und Entlarvung die der
Bewegung mehr nützt als nur unser Film von der nicht stattfindenden
Revolution. Es sind sehr viel gute Ideen in dem Konzept, die


La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
2/
wir beibehalten sollten. Aber im Ganzen müsste es vielleicht noch
klarer und radikaler und von der Bewegung weniger „beobachtend“
distanziert sein. Es müsste mehr ein Teil von ihr sein, mehr von
ihr her, aus ihr heraus, kommen, denke ich. Also ist vielleicht
überhaupt die TV unmöglich. Oder? Ich weiss nicht. Jedenfalls ist
es gut dass wir nun plötzlich mehr Zeit haben. Meine Sinfonie, die
letzte wohl, die soll auch anders werden als ich gedacht hatte.
Dazu brauche ich eine ganze Masse Material, ich möchte die
Stimmen hineinbringen von Castro x xmöglichst
nicht die
letzte pro – S.U.
Rede
* (ob man wohl ein Tonband be-
kommen kann?) von Che von Rudi und von Typen wie Gaston,
und will Demonstrations-Geräusche hineintun und vietnamitische Musik,
die ich nun erst mal studieren muss. Und sie soll ein Ge-
brauchsgegenstand werden.*

Das hindert nicht die Arbeit am Cimarrón, für den ich auch
einige ganz neue Ideen habe.

     Jedenfalls ist weiterhin alles in Bewegung, wie schön.

Ich komme nach Berlin am 28. oder 29. Sept.

Tanti saluti a Dagrun und Tanaquil
hans

P.S. In Berlin möchte ich dann auch noch was sagen
wegen Cuba, wo ich auch hin möchte.

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: sehr dünnes, durchsichtiges cremefarbenes Papier
    • 2. Blatt von Henze in gleicher Farbe im linken Bereich als "2/" nummeriert (Schrägstrich drunter);, ;
    • WZ: das an anderer Stelle beschriebene, das wie ein Rundstempel aussieht, mit "PEINEDER Firenze . Roma" drin sowie Blumenbündelartiger Mitte, aber hier ohne Hilfsmittel nicht richtig entzifferbar; Stegabstand: 2,7cm
    • Faltung: Drittelfaltung quer (2mal auf Dinlang)
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x213 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Absätze: nicht eingerückt bis auf den Grußabsatz ("Jedenfalls"), dieser ca. 5 char.; Anführungszeichen vorne unten (wenn nicht anders vermerkt)

Schreibstile

Textkonstitution

  • "xmöglichst nicht die … – S.U. Rede"am linken Rand hinzugefügt
  • "… wo ich auch hin möchte."Die 2. Zeile ist so eingerückt, dass das „P.S.“ frei bleibt.

Einzelstellenerläuterung

  • "… 3. September schon 1968"Auf Grund der Erwähnung von Rudi Dutschkes Aufenthalt in Marino muss der Brief aus dem Jahr 1968 sein.
  • "… nun wieder in Berlin ."Enzensberger war den Sommer über in seinem Ferienhaus in Tjøme (Norwegen); vgl. dazu den folgenden Brief. Diese Briefe haben sich überschnitten.
  • "… bevor Du nach Cuba gehst."Enzensberger lebte von Oktober 1968 bis Ende April 1969 in Kuba.
  • "… einem sehr unruhigen Rudi ."Von dem Attentat am 11. April 1968 erholte sich Rudi Dutschke ab Mitte Juli 1968 auf Vermittlung von Gaston Salvatore in Marino. Der Aufenthalt wurde nach einiger Zeit entdeckt und La Leprara wurde von da an Tag und Nacht bewacht. Vgl. Autobiographie S. 294–296 und Gretchen Dutschke, „Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke. Eine Biographie“, Köln 1996, S. 212.
  • "werd"recte "werde".
  • "… schaffen. Nehme das neue Kursbuch"Hier handelt es sich um Kursbuch 14, erschienen im August 1968.
  • "… letzte pro – S.U. Rede"Hier ist wahrscheinlich folgende Rede gemeint: „Rede zu den Ereignissen in der CSSR, gehalten am 23. August 1968“, vgl. Fidel Castro, Ausgewählte Reden zur internationalen Politik 1965–1976, Zürich 1976, S. 21–76. Die Rede Fidel Castros vom 13. März 1967 ist auch veröffentlich in Kursbuch Nr. 11 (Januar 1968), S. 103–117.
  • "vietnamitische"recte "vietnamesische".
  • "… soll ein Ge brauchsgegenstand werden."Vgl. auch die weiteren Äußerungen zu der Sinfonie in den Briefen. Die Idee, Reden von Revolutionären per Tonband einzuspielen, hat Henze letztlich nicht umgesetzt. Aber er verwendete in seiner 6. Sinfonie vietnamesische Musik und bis dahin von ihm nicht in Sinfonien verwendete Schlaginstrumente.
  • Tanti saluti a
    • Viele Grüße an

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        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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