Brief (mit Umschlag) von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 5. September 1968

Einstellungen

Zeige Markierungen im Text

Absolute Chronologie

Vorausgehend

Folgend

[Typoskript]

berlin 5. 9. 68
lieber hans

     jetzt sitze ich wieder hier in berlin in meinem haus*, sehr
vereinzelt: dagrun und tanaquil sind in norwegen geblieben. dort war es der
herrlichste sommer, alles war eingeschmolzen zu einem glänzenden ruhigen
meer und kein ende zu sehen. hier dagegen wie immer ist alles verstellt
und bedeckt mit alten und neuen ruinen.

ich fahre definitiv anfang oktober nach cuba. jetzt lebe ich sehr unsicher
und ohne plan. werde wenigstens drei monate in havana bleiben.*

neulich rief borelli an, wollte wissen wieviel geld ich haben will für
andiamo all’opera * das projekt soll in noch einem dieser endlosen comités
besprochen werden und vielleicht beschlossen werden. da ich nicht aufs geradewohl
will sagen für den papierkorb arbeiten wollte, überhaupt nicht aufgelegt
war für arbeit, habe ich in norwegen nichts am libretto getan. aus borellis
vorsichtigen fragen ging hervor, daß er einen gewissen politischen verdacht
geschöpft hat; trotzdem scheint für ihn die sache zu locken. die entscheidung
müßte in diesen tagen fallen. wir könnten im frühjahr produzieren – ich
würde dann im januar/februar den text machen. in cuba ist das ziemlich
ausgeschlossen.

für deinen brief aus amerika – habe ich dir gedankt?* du triffst genau die
kernfrage mit dem was du über die oper sagst*, aber es ist eine frage auf die
ich eine antwort nicht finden kann. es ist letzten endes die frage meiner
eigenen arbeit; ich schreibe keine gedichte mehr, weil ich zwischen die
mühlsteine gekommen bin. (oper=poesie, hier wie dort die gleiche zwickmühle.)
die besetzung der oper ist nicht nur ein akt der hoffnung, sondern auch ein
akt der verzweiflung. die sie besetzen haben recht gegen die gesellschaftliche
gestalt der kunst, wie sie heute dasteht. sie haben unrecht gegen "mozart
selbst"
– aber unsere gesellschaft machxxxx erlaubt keinen "mozart selbst" mehr.
das verführt die revolutionäre zu einer art von barbarei. ohne revolution
haben wir keine kultur mehr, nur ihr lügenhaftes abziehbild. ich fühle das
so stark, daß ich keine gedichte mehr schreiben mag. ich sehe keinen ausweg
aus diesem dilemma. die auswegslosigkeit unserer lage ist es, was die oper
zeigen muß. also nicht rechtfertigung oder verdammung der oper, sondern un-
aufgelösten widerspruch, als ironie und als wirklicher kampf. am schwersten
wird das zu zeigen sein bei der oper in der oper: denn dort muß die ganze sache
wie im brennspiegel sich sammeln und konzentrieren. vielleicht so, daß man
eine wirkliche oper (zauberflöte) nimmt und sie als zitat beginnen läßt, dann
zunehmend deformiert, musikalisch und dramatisch, bis zur unmöglichkeit
weiterzuspielen. so ein verfahren würde klarmachen, daß es nicht an mozart
liegt, sondern an uns und unserer legi[?]xxxxxxx lage. was hältst du davon? ist das
musikalisch und fruchtbar?


gaston ist seit gestern wieder hier, auch sein leben ist sehr ziellos ge-
worden. ich bin sehr froh daß es wieder da ist, und wir sehen einander täglich.
rudi sitzt allein in brüssel, auch für ihn ist es immer schwerer einen ausweg
zu finden. zu allen anderen problemen kommt in seinem fall noch die gretchen-
frage*, die zwar für uns mit einigen four letter words zu beantworten ist,
für ihn aber so gut wie unlösbar scheint. er wird nämlich weder nach usa
noch nach canada gelassen. dazu kommt, daß er sich für lange zeit völlig
zurückziehen will – wohin und wozu? das alles ist sehr traurig.

herzlich danke ich dir für die beiden platten. die musen siziliens * beim
wiederhören noch schöner als damals in marino. und was macht deine symphonie?
du wirst arbeifen müssen wie ein teufel. wohl dir daß du es kannst, dir nicht
selbst in den arm fällst! der cimarrón wird weile haben, es ist ja kein
drängexxxxxx auftrag und kein drängeln.

sehen wir uns noch vor ich nach cuba gehe?* wenn die symphonie rechtzeitig
fertig wird, warum kommst du dann nicht für ein paar tage nach berlin?
alle wären ganz froh darüber!

¡abrazos y abrazos!            mang.

P.S. ist orsini nun definitiv aus dem spiel? hoffen wirs!
aber man müßte sich dessen versichern; mit ihm ist
die oper nicht zu machen

Dies ist eine reduzierte Voransicht. Wechseln Sie für weitere Informationen zur Edition des Umschlags

[Umschlag, Typoskript]

Ill:mo maestro hans werner henze      la leprara      marino (roma)      italia


Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
    Signatur: Enzensberger, Hans Magnus

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • helles Papier
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 296x210 [mm] (HxB)
    • Layout

    • anderthalbzeilig
    • Absätze nicht eingerückt aber jeweils durch eine Leerzeile getrennt

Schreibstile

Textkonstitution

  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus
  • "… berlin 5. 9. 68"Die Punkte zwischen den Zahlen stehen mittig.
  • Folgend: Typoskript
  • "v""b" überschrieben mit "v"
  • "a"gelöschter Text nicht lesbar
  • "v""f" ersetzt durch "v"
  • "s""t" überschrieben mit "s"
  • "i""k" überschrieben mit "i"
  • "mach"gelöscht durch Überschreibung
  • "a""A" überschrieben mit "a"
  • "d""s" überschrieben mit "d"
  • "i""k" überschrieben mit "i"
  • "m""t" überschrieben mit "m"
  • "nm""mn" überschrieben mit "nm"
  • "legi[?]"gelöscht durch Überschreibung
  • "i""w" ersetzt durch "i"
  • "w""k" ersetzt durch "w"
  • "?""!" überschrieben mit "?"
  • "dränge"gelöscht durch Überschreibung
  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus

Einzelstellenerläuterung

  • "… in berlin in meinem haus"Enzensberger besaß seit 1965 ein Haus in der Fregestr. 19 in Berlin-Friedenau, vgl. Freitag, Christian M., "Ritter, Reichsmarschall und Revoluzzer. Aus der Geschichte eines Berliner Landhauses", Berlin 2015.
  • "… in ha v ana bleiben."Enzensberger war von Oktober 1968 bis Ende April 1969 in Kuba.
  • "… haben will für andiamo all’opera"In der PSS ist der Durchschlag eines Briefes und eines Abstracts überliefert, mit dem Enzensberger und Henze am 7. Juni 1968 an Fabio Borelli eine Projektskizze zu "Andiamo all’opera" übersandt haben.
  • "… – habe ich dir gedankt?"Von Mitte Juli bis Mitte August 1968 hielt sich Henze in Santa Fe zur Erstaufführung der "Bassariden" auf. Die Premiere dort war am 11. August 1968; vgl. https://www.wikiwand.com/en/The_Bassarids. Der von Enzensberger angesprochene Brief ist bislang unbekannt.
  • "… du über die oper sagst"Da sich die beiden Briefe vom 3. bzw. 5. September 1968 überschnitten haben, sind die folgenden Überlegungen keine Reaktion auf Henzes Überlegungen vom 3. September, sondern ev. auf den bisher unbekannten Brief aus Santa Fe.
  • "es"recte "er".
  • "… noch die gretchen - frage"Hier spricht Enzensberger Probleme mit Rudi Dutschkes Frau Gretchen an.
  • "… beiden platten. die musen siziliens"Enzensberger spricht hier wahrscheinlich folgende Einspielung an: Deutsche Grammophon 1968. Welche zweite Platte Henze an Enzensberger geschickt hatte, ist nicht bekannt.
  • "arbeifen"recte "arbeiten".
  • "vor"recte "bevor".
  • "… vor ich nach cuba gehe?"Dieser Brief hat sich mit dem von Henze vom 3. September, in dem er seine Ankunft anzeigte, überschnitten.
  • ¡abrazos y abrazos!
    • Umarmungen und Grüße

        XML

        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger.

        Rechtehinweis

        Alle Rechte an den Briefen Enzensbergers verbleiben bei der Erbengemeinschaft Enzensberger.

        Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
        so bitten wir um eine kurze Nachricht an henze-digital [@] zenmem.de.