Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 4. Januar 1969

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[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
4. 1. 69
      Querido Mang,

vielen Dank für Deinen Brief.* Vor ein paar Tagen habe ich mit
Herrn del Rio von der cubanischen Botschaft in Rom gesprochen, er war
sehr entgegenkommend und meinte, es wäre kein Problem dass ich
(mit Fausto Moroni übrigens) nach Havana ginge, Anfang März, zumal
wenn ich die Reise selbst bezahle. Jetzt ist Folgendes: Ich soll
am 1. März (aber sicher ist es wohl noch nicht) in Ostberlin die
„Medusa“ aufführen*, danach könnte ich direkt, über Prag, nach Cuba
gehen. Meine Idee ist, später im Jahr dann auch nach Asien
zu gehen, Japan, später auch andere Länder für jeweils längere
Zeit zu besuchenx xich vermiete mein Haus, so kann ich es finanziell
bestreiten – will ungefähr für ein Jahr wegbleiben.
und auch ein bisschen zu arbeiten. Als erstes
den Cimarrón, genau wie Du sagst: ich würde ihn wirklich gern
am liebsten in Cuba schreiben. Was soll ich sonst dort tun?
Ich würde mich sehr gern nützlich machen. Bitte sage doch den
zuständigen Cubanern: was sie gern von mir hätten würde ich
machen. Dirigieren? Unterrichten? Oder nur da sein, lernen und schreiben? Und del Rio sagte, es wäre
nützlich, möglichst viel Sachen mitzubringen für das Dokumentations-Centre.
Was soll ich mitbringen? Noten. Schallplatten, Bücher? Das alles
müsste ich recht bald wissen. Kannst Du mir nicht schreiben c/o
del Rio, Ambasciata di Cuba, 21, via die San Valentino, Roma mit
der Diplomatenpost, damit es schneller geht? Und bist Du hoffentlich
noch da, wenn ich ankomme?

Es sieht so aus, als ob es für mich ziemlich schwierig sein wird,
in den nächsten Jahren in der BRD aufzutreten als Dirigent oder so,


La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
3
ich werde Dir das alles erzählen.* Und ich habe kein grosses
Interesse daran, eigentlich. Es ist wohl das tristeste Land der
Welt, und es sieht hoffnungslos aus. Gastón ist sehr unglücklich,x xausserdem sauer, dass er keine Post von Dir hat!!
aber wer wäre das nicht dort, und auch hier in Italy steht
es nicht zum Besten. Dafür haben wir in Berlin die Projekt-
gruppe „Kultur und Revolution“
bei der sich alles in Abstraktionen
auflöst, kein Wunder, denn sie haben keine andere Arbeit zu
verrichten, und könnten auch keine andere verrichten als gelegentlich
in einem “liberalen“ Blatt wie der „Zeit“ ein paar im Kollektiv
geschaffene Langweiligkeiten zu veröffentlichen. Die „contestazione globale“ der
italienischen Studenten hat weiter gewirkt, wenn auch nicht sehr, sie
jagt den Leuten einen Schreck ein, und aus. In der Neujahrsnacht haben sie
bei Viareggio gegen ein de luxe-Nachtlokal demonstriert, mit faulen
Eiern geschmissen etc. (so auch vor 4 Wochen zur Eröffnung der
Scala-Saison da muss es hoch hergegangen sein, die Premiérenbesucher,
juwelenbestreut, wurden von 2000 Polizisten geschützt, trotzdem trafen
die Geschosse, faule Eier und Farbe, Du siehst, unsere T.V. Oper
findet dauernd schon statt, es sind schnell lebige[sic] Zeiten) aber in Viareggio
ist ein Student schwer verletzt worden, paralysiert auf Lebenszeit, man
weiss nicht, ob die Polizei geschossen hat oder einer der padroni .....
das sind so die Nachrichten.

  Eigentlich wollt ich das ganze Jahr hiergeblieben sein, die vielen
neuen Bücher lesen, und schreiben (versuchen, zu schreiben) aber es
wird mir plötzlich klar, dass ich weg muss, hier würde ich vor
Unruhe eingehen. Dass ich Fausto mitnehme, wird Dir seltsam vorkommen –


La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
3
aber auch mir kommt es auch seltsam vor – nur müssen wir beide(Du und ich)
bedenken, dass ich schon älter bin, und dass er ein guter Reise-
begleiter ist, und dass wir, wenn nicht schon in Cuba, so doch
später, nicht in den Städten wohnen wollen, sondern draussen, möglichst
am Meer, und sehr „haushalten“ müssen, also selbst kochen etc. etc.

          Falls ich in Havana dirigieren soll und es sollen neue
Sachen sein, müsste ich auch das möglichst bald wissen, denn das
Orchestermaterial müsste hingeschickt werden. Wie macht man das?
Am besten vielleicht auch durch die Botschaft in Rom?

Wohlverstanden, am liebsten würde ich nur schauen und lernen, und
den Cimarrón arbeiten, aber ist das im Sinne der Sache?

Ich bin froh, dass Du schreibst Du fühlst Dich besser als je in den
letzten Jahren –

ob es mir auch so gehen dürfte? Ich wäre dankbar. Das Leben
hier ist trostlos, das System funktioniert wie am Schnürchen, und
es wird zum Gegenangriff übergegangen (mir haben sie die italienische
Aufenthaltserlaubnis entzogen, und ich kriege auch kein Visum in
die U.S. mehr*, was ich eigentlich übertrieben finde).

Sieh zu dass ich bald kommen kann. Könnte am 2. März
in Schönefeld starten.

Abrazos a tutti e due
(Lerne jetzt spanisch –)
hans

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: cremefarbenes dünnes Briefpapier,
    • WZ: stempelartiges "- PINEIDER - FIRENZE · ROMA"; Stege; 2,6cm;
    • Faltung: Drittelfaltung auf Dinlang
    • Umfang

    • 3 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 298x214 [mm] (HxB)
    • Layout

    • auf S. 1 und 2 Randnotiz am linken Rand in der Mitte der Seite, von oben her zu lesen; Seitenzählung "2" und "3" von Henze mit demselben Stift oben links unter/neben dem Eindruck
    • Absatz ohne Einzug und Abstand
    • Anführungszeichen unten oben
    • Rand 3 cm

Schreibstile

Textkonstitution

  • "xich vermiete mein … ein Jahr wegbleiben."am linken Rand hinzugefügt, Text im Uhrzeigersinn gedreht (270°)
  • "Oder nur da … lernen und schreiben?"über der Zeile hinzugefügt
  • " Roma "über der Zeile hinzugefügt
  • "xausserdem sauer, dass … von Dir hat!!"am linken Rand hinzugefügt, Text im Uhrzeigersinn gedreht (270°)
  • "zu"über der Zeile hinzugefügt
  • "und aus."über der Zeile hinzugefügt
  • "schnell lebige"sic
  • "auch"über der Zeile hinzugefügt
  • "auch"durchgestrichen (unsichere Lesung)
  • auch
  • "(Du und ich)"über der Zeile hinzugefügt
  • "n""r" überschrieben mit "n"
  • "… hans"Der Anfangsbuchstabe von „hans“ mit langem Abstrich.

Einzelstellenerläuterung

  • Querido
    • Lieber
  • "… Dank für Deinen Brief ."Henze reagiert auf den Brief, von dem wir das Schreibdatum nicht wissen, der aber laut Poststempel am 3. Januar 1969 in Marino ankam.
  • "… in Ostberlin die Medusa aufführen"Diese Aufführung fand nicht statt. Statt dessen dirigierte er am 14. Februar 1969 in London die Uraufführung von „Versuch über Schweine“ und konzertierte als Dirigent Anfang März in Detroit und anderen Orten; vgl. Autobiographie S. 310f.
  • "… werde Dir das alles erzählen."In seiner Autobiographie schreibt Henze zu den Ereignissen nach der gescheiterten Aufführung von „Das Floß der Medusa“: „Morgens hatte der NDR-Programmdirektor Reinholz in Hamburg eine Pressekonferenz gegeben, zu der man, nebenbei bemerkt, mich nicht geladen hatte, das Medusa-Band von der Generalprobe vorgeführt und den Journalisten mitgeteilt: Für die nächsten zehn Jahre ist Henze für das deutsche Musikleben erledigt. Es sind eher mehr daraus geworden.“ (S. 308).
  • "… Visum in die U.S. mehr"Diese Beschränkung galt nicht sehr lange, denn im März 1969 dirigierte Henze in Amerika.
  • a tutti e due
    • Umarmungen für Euch beide

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        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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