Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 19. Juni 1971

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[Typoskript]

Berlin den 19 Juni 1971 Mein lieber Hans,

du verstehst mich schon, daß ich so lang ge-
schwiegen habe. Unterwegs, auf jener Film-Reise*, war an Denken
kaum zu denken, obgleich ich meine cubanische Schabracke* immer
schön im Koffer trug und mich öfter als einmal an ihr versuchte:
vom Resultat ist nichts übrig geblieben, ein Kofferschnäpper
hat es wohl in einem Pariser Kanonenofen verbrannt, samt meinen
Kleidern und allem was einer sonst mit sich trägt, und was man,
ich wüßte nicht warum, auf Deutsch Habseligkeiten nennt.
Und danach, ja danach hat sich der Horizont erheblich verdüstert.
Ich kannte Nono nicht gut, doch gefiel er mir sozusagen von
Tag zu Tag besser.* Was mir aber sehr nahe geht, so daß ich ange-
fangen habe schlecht zu schlafen, was bei mir schon Katastrophen
anzeigt, das ist Gaston, Gastons Unlust weiter zu leben, Gastons
erbarmungsloser Blick auf das was uns umgibt, Gastons Weigerung,
irgendwxetwas Tröstliches gelten zu lassen, sein maßloser Schmerz.
Ich weiß wahrhaftig nicht, wie das weitergehen soll, und fühle
mich sehr, sehr ohnmächtig.*

Dazu kommen dann die andern Sachen. Andere Sachen von Cuba bis
Pjöng-yang, unter besonderer Berücksichtigung von Berlin. Es ist
wirklich nicht ganz einfach, der Demoralisierung zu entgehen.
Ich wenigstens sehe mich stärker als in all den letzten Jahren
auf mich selber zurückgeworfen. Die Arbeit wird zur Droge, zum
Notanker oder zum Narrenseil. Dein Brief sagt, daß auch du viel
arbeitest, ich beglückwünsche dich dazu. Freue mich sehr über
alle deine Nachrichten, auch die Gödelianischen. Gödel übrigens
hat sozusagen keine Biographie. Ein Mensch, der völlig self-effacing
ist. In den Noten zu dem Gedicht-Buch, das im Herbst erscheinen wird*,
vermerke ich über ihn das folgende:

Der große Mathematiker Kurt Gödel hat sein Theorem in folgendem
Aufsatz publiziert: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia
Mathematica und verwandter Systeme. Monatshefte für Mathematik und
Physik
, Band 38 (1931), S. 173-198.*

Gödel ist in Deutschland geboren, 1933 emigriert; er arbeitet und
lehrt am Institute for Advanced Studies[sic] in Princeton.


Zu Rachelita das folgende. Ich habe keine Reaktion von Felsenstein
oder Herz; auch keine negative oder entschuldigende. Damit betrachte
ich die Frage der Komischen Oper als erledigt. Ich habe auch ein
wenig die Lust verloren, mit Ihnen weiter Versuche zu machen, ujnd
bin weniger denn je geneigt, inhaltlich irgendwelche Konzessionen
oder Eselsbrücken zu jenem braven Sozialismus zu machen, den jene
Leute sich überstülpen müssen.

Was die zweite Fassung betrifft, so ist es möglich, daß nach all dem
Hin und Her weniger geändert wird als ich dachte.* Gewiß wird das
Problem der Zeugen, übrigens auf sehr einfache Art, szenisch geklärt;
auch die Chöre werden umgeschrieben. Auch die szenisch begründeten
Änderungen, die wir besprochen haben, mach ich natürlich. Aber von
der Konzeption und vom Inhalt her bleibt das ganze, wie es ist. Ich
bin impressionabel gegenüber jedem Einwand und jedem Vorschlag, leicht
zu beeindrucken, überl[e]ge mir jedden auch den dümmsten Einwand drei
Mal. Aber das heißt nicht, daß ich leicht die Axt an meine Sachen lege.
Und jeder Versuch, Rachel zu glätten, glattzukämmen, sozialistisch
oder sonstwie zu frisieren, sindxxxx ist gant aussichtslos. Auch die ge-
wissermaßen unverschämte Naivität der Dramaturgie gehört zum Stück
und läßt sich nicht beseitigen, ohne daß das Ganze fiele. Die Haupt-
arbeit also bestand eher darin, dies einzusehen, als darin, alles
zu verändern. Erwarte keine großen Eingriffe. Es wird nur das Not-
wenidigebereinigt und einige Hilflosigkeiten, vor allem szenischer
Natur, werden gebessert. Mehr als drei Wochen brauchst du auf das
fertige Ms gewiß nicht mehr zu warten.*

Was NET betrifft, so werde ich den Vertrag nicht unterschreiben, auch
nicht weiter direkt verhandeln, sondern Soffer einzuschalten versuchen.
Ich bräuchte aber unbedingt eine Kopie deines Vertrages, sobald wie
möglich. – Von Schott bekam ich die Fahnen des Cimarrón-Bandes, aber
weder auch nur einen Pfenning, noch den Entwurf des Rachel-Vertrages.
Alles recht beschissen.

Und du mit einer Rzesen-Tourness vor Augen*, ich beneide dich nicht.
Hoffentlich habe ich nichts vergessen. Hast du Gastons Telefon?:
8862383.

Leb wohl, un abrazo un poco melancólico
mang

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
    Signatur: Enzensberger, Hans Magnus

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dünnes helles Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA 6
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 295x209 [mm] (HxB)
    • Layout

    • anderthalbzeilig, kein Einzug, keine Leerzeile, Rand links gut 3 cm

Schreibstile

Textkonstitution

  • "ü""ä" ersetzt durch "ü"
  • "w"gelöscht durch Überschreibung
  • "n""m" ersetzt durch "n"
  • "i""o" ersetzt durch "i"
  • "h""t" überschrieben mit "h"
  • "s""e" überschrieben mit "s"
  • "n""h" ersetzt durch "n"
  • "Studies"sic
  • "H""N" überschrieben mit "H"
  • "r""a" ersetzt durch "r"
  • "m""n" ersetzt durch "m"
  • "i""s" ersetzt durch "i"
  • "sind"gelöscht durch Überschreibung
  • Folgend:

Einzelstellenerläuterung

  • "l"angepasst zu "1".
  • "l97l"angepasst zu "1971".
  • "… habe. Unterwegs, auf jener Film-Reise"Hierbei dürfte es sich um die Reise für die Arbeit an dem Film "Durruti – Biographie einer Legende – Ein Film-Roman" handeln.
  • "… obgleich ich meine cubanische Schabracke"Dieser Ausdruck macht es schwierig zu entscheiden, ob Enzensberger hier "nur" von Materialien zu "La Cubana" spricht oder auch weitere Materialien zu seiner Zeit in Kuba meint.
  • "… von Tag zu Tag besser."Vgl. den Kommentar zu dem Brief von Henze vom 8. Juni 1971.
  • "… fühle mich sehr, sehr ohnmächtig."Das Verhalten von Gaston Salvatore in den Jahren nach der Studentenrevolte in Berlin, ist mehrfach Gegenstand der Korrespondenz zwischen Henze und Enzensberger. Es ist im Rahmen dieser Edition nicht möglich, ggf. detaillierte biographische Hintergründe zu benennen. Salvatore arbeitete zu dieser Zeit (1970/1971) an zwei Filmprojekten, von denen der Film über den Erbauer der ersten Mauer in China nie realisisert wurde. Salvatore hat die Recherchen zu dem Film dann in seiner langen Erzählung "Der Kaiser von China" verarbeitet.
  • "… das im Herbst erscheinen wird"Der Band trägt das Publikationsdatum 1972.
  • "… Band 38 (1931), S. 173-198."Enzensberger schließt den Gedichtband mit "Hommage à Gödel" (S. 168f.) und schreibt in den als "Noten" am Ende zusammengefassten Anmerkungen den zitierten Satz, ergänzt nur um die Daten "geboren 1906 in Brünn und seit 1953 in Princeton tätig" (S. 175).
  • "ujnd"recte "und".
  • "… geändert wird als ich dachte."Enzensberger bezieht sich hier auf seine Äußerungen in dem vorangehenden Brief.
  • "jedden"recte "jeden".
  • "gant"recte "ganz".
  • "wenidige"recte "wendige".
  • "… gewiß nicht mehr zu warten."Die Fertigstellung verzögerte sich doch noch bis August 1971, vgl. den Brief von Henze am 12. August 1971.
  • "Pfenning"recte "Pfennig".
  • "Rzesen-Tourness"recte "Riesen-Tournee".
  • "… mit einer Rzesen-Tourness vor Augen"Vgl. den vorangehenden Brief von Henze, in dem er von einer Tournee von Oktober 1971 bis Ende Mai 1972 spricht.
  • un abrazo un poco melancólico
    • eine etwas melancholische Umarmung

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