Brief (mit Beilage) von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, vom 8. bis 9. Juli 1971

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[Manuskript]

La Leprara
00047 Marino (Roma)
8 oder 9 Juli 1971 *
lieber Mang,

ich hätte längst schreiben müssen, war aber von der arbeit so zerstört und von einem konglomerat
deprimierender zustände, zufälle und zumutungen, dass es nicht ging. darüber später. zunächst die arbeits-
dinge:

1) lies den brief von herz *. (warum heisst er nicht schmalz?) von felsenstein habe ich nichts gehört,*
dagegen von bahner (dem dirigenten) der nichts von herz’ brief wusste als er mich vor 2 tagen
wegen eines konzerts anrief und der auch nicht glaubt dass felsenstein von Rachel nichts mehr
wissen will. was ja auch seltsam wäre, wo er doch vor einiger zeit unbedingt wollte.
vielleicht ist es eine dumme intrige? bestimmt ist es falsch von [Abbildung] zu glauben, ein schau-
spielhaus könne sich so einen haufen guter instrumentalisten anheuern wie in unserm stück
nötig. vielleicht könnte es gerade das berliner ensemble noch schaffen, aber es ist würde[sic]
sicher schwierig sein, weil die guten alle schon mehr arbeit haben als gut für sie ist. wiederum
finde ich ⓕ’ hinweis auf die berghaus gut und bedenkenswert (wiederum ist sie eine
feindin von felsensteyn[sic] und vice versa) – dann wieder denke ich auch an die mühselige
und oft recht ärgerliche grenzüberquerung bei checkpoint Charlie und das wiederum lässt mich mit
dem gedanken flirten, sich um die hauptstadt der DDR gar nicht mehr zu kümmern. dies sag
ich nachdem ich gerade für oktober ein konzert zugesagt habe dorten*, aber vielleicht ist das
doch insofern nützlich als man dann dort in ruhe alles besprechen könnte. es eilt ja nun
nicht mehr, worüber ich ganz froh bin, weil alle chansons in ruhe gemacht werden kön-
nen und ohne die hast und zeitnot die mich schon so oft drangsaliert hat. und wir
können abwarten ob sich nun felsenstein oder wer sonst meldet: auf jeden fall sind wir Monsieur Cuoer[sic]


La Leprara
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los, vielleicht ginge nun doch alles und mit götz(?) friedrich der ja wohl einen besseren kunstverstand
hat. und nicht doof quasselt. ich erinnere mich übrigens, einen brief von felsenstein gehabt zu haben
nach dem letzten gemeinsamen gespräch, worin er klagte, nichts von uns zu hören.

und ausserdem können wir immer noch abstand nehmen.

2.) der komplex NET: Mr. Adler puscht mich Dich zu bitten, bald den neuen text, oder wenigstens einen
teil davon, zu schicken, wegen übersetzungsproben. da er viele briefe schreibt, nehme ich an, Du hast
auch von ihm gehört. ich hoffe, Deine verhandlungen gehen nun rasch voran, via Sheldon Soffer,
und dass Deine forderungen erfüllt werden. mein vertrag ist bei Soffer in N.Y., er soll ihn Dir von mir
aus
schicken. es wäre hübsch, wenn bald alles klar käme, denn vorher komme ich nicht zu meinem
vorschuss den ich dringend benötige. – und dann wird ja wohl im august oder sept. das meeting
mit Adler sein, bei dem wir über die besetzung, regie etc. dringend reden müssen. es sei denn,
Du willst gar nicht mit der NET – das musst Du entscheiden.

3.) Schott (hanser-strecker)

schreibt, betreffend den Rachel -vertrag, die verzögerung läge am verlag der autoren, der „8 wochen
lang trotz mahnung nicht auf unsere änderungsvorschläge reg reagiert“. diese mitteilung stammt
vom 30. 6., also ist sie rezent. hoffentlich bewegt sich was. Aber, mein lieber, ich möchte
Dich auf den § 10 aufmerksam machen: bei meinen früheren bühnensachen ging die klausel so, dass
die übersetzungskosten zu lasten des komponisten gingen. das möchte ich nicht mehr akzeptieren. so steht
nun dort: sie gehen zu lasten des schriftstellers. ich warne Dich davor, das zu unterschreiben, denn
es könnte eine teure angelegenheit werden, besonders wenn, was wir ja wünschen sollten, das stück in
vielen ländern, also in vielen sprachen, aufgeführt werden sollte. ich finde, die übersetzungskosten sollte
der verlag übernehmen. ist das nicht in der buchverlag-welt ohnehin der brauch?


La Leprara
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nun genug von diesen dingen. übrigens bin ich müde, zumal ich meist erst um 6 uhr morgens ein-
schlafe und um 10 A.M. wieder aufwache und wirklich bemerkenswerte traurigkeiten beherberge. Leo hätte
nach seiner ankunft in habana telegraphieren sollen, hat es aber nicht getan. übrigens weiss ich jetzt, dass
mein freund Rogelio schon in der letzten woche meines cuba-aufenthalts nicht etwa schlicht in die
ewige Zafra gerufen wurde (die er jährlich 4–5 monate lang machte wenn er nicht gerade in
Corneywäy zum einsatz gegen konterrevolutionäre gebraucht wurde) sondern in ein arbeitslager. vielleicht genügt
Dir dieser hinweis, um Dir ein Bild von meinem Zustand machen zu können. dass luigi Nono
in Chile selbstkritik (wegen unterschreibens des Padilla telegramms) * geübt hat, um ein visum nach cuba zu bekommen, dass er in cuba war
und u. a. auch Heberto gesehen hat, von dem er den eindruck gewonnen hat, er sei ein
opportunist (so sagte er mir am telephon)* das wird Dich gewiss freuen zu hören, falls Du es noch
nicht wusstest. weitere neuigkeiten habe ich kaum, wenn ich von dem brief der natascha Ungeheuer *
absehen darf, den ich Gastón “zur kenntnisnahme“ geschickt habe. aber ich möchte wirklich sehr
gern davon absehen, wenn möglich, und mir lieber weiterhin überlegen, wieso ich eigentlich dazu
komme mein ganzes Leben in eine hölle zu verwandeln und masochismen und schuldgefühle
aufgedrängt zu bekommen, um die ich wirklich nicht gebeten habe. ich suche und finde tatsächlich
viel schuld bei mir: z. b. leichtsinn, z. b. irrsinn (wenn ich geglaubt habe mit meinen problemen
fertig zu werden indem ich mich in die „bewegung“ integriere, nicht mehr allein sein etc.
und dann mich doch nie wirklich völlig integriert habend) – und die donnerworte Fidels treffen
mich tatsächlich (ich weine auch im kino) und ich komme mir schon so abscheulich vor
wie viele leute mich finden. und weil ich ein krebs bin, bewege ich mich nun rückläufig. aber
woher nehme ich nun noch energie und mut, mich mit den leuten abzugeben, die ich früher ertragen
habe, entweder aus gleichgültigkeit oder aus einer art zynismus. oder auch nur, weil ich den geringsten wider-


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stand für das comfortableste gehalten habe, um keine zeit zu verlieren und keine störung überhand
nehmen zu lassen. immerhin konnte ich damals noch lachen und sogar mich verlieben. und war ein
outlaw ohne übertretung der befugnisse. cuanta ignorancia he tenido como se fuera una cosa
querida
, und jetzt wo ich so viel mehr weiss, scheint es mir ich weiss weniger denn je.

ich würde Dich gern sehen, hoffentlich ist das bald möglich. morgen wollte ich nach berlin fliegen,
auf dem weg nach London, aber ich schaffe es nicht. und ich bin feig vor dem koloss Gastón: ich
habe nicht mehr genügend kraftreserven, um noch mehr schwarze Gedanken und zustände aufnehmen zu
können. und ich weiss dass Gastón alles verachtet was nicht auf seinem N[sic] iveau von schwärze
existieren kann. aber bald werde ich wieder genug kraft haben, ihn zu sehen und zu hören
im augenblick aber kann ich nichts mehr.

wenn meine erinnerungen nicht so lebhaft wären und bis 1940 zurückgingen als sei es gestern ge-
wesen, könnte ich auch einen fabelhaften Stalinisten abgeben. dann wären wir jetzt nicht freunde
und ich hätte das lügen (oder das schlucken von felsensteinen*) gelernt.

auch von Miguel kommt kein brief mehr.

bitte schreibe mir bald, lieber Mang. Deine briefe sind klar und präzis.
sei umarmt von Deinem
sehr alten + kaputten hans

Felsenstein Herz
Schott Vertrag Rachel wie Expl. Henze
NET wieviel? England

Übersetzung von

Apparat

Generalvermerk

Diesem Brief hat wahrscheinlich der Auszug aus der Rede Fidel Castros vom 26. Juli 1970 beigelegen, der gemeinsam mit dem Brief vom 15. Februar 1971 überliefert war; vgl. die Anmerkung dort.

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • mittelblaues dünnes Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • WZ: das stempelartige "- PINEDER – FIRENZE · ROMA", Stegabstände ca. 2,6cm;
    • Umfang

    • 4 Blätter
    • 4 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 300x215 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Briefpapier nach links gedreht und quer beschrieben
    • Bl. 2-4 von Henze mit demselben Stift am oberen Außenrand rechts mit "2" bis "4" (jeweils darunter ein Schrägstrich \) nummeriert
    • Rand: ca. 1,5 cm, um den Briefkopf herum beschrieben
    • Anführungszeichen: unten oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "haben"über der Zeile hinzugefügt
  • "Cuoer"sic
  • "von mir aus "am rechten Rand hinzugefügt
  • "aus"am linken Rand hinzugefügt
  • "reg"durchgestrichen
  • "Corneywäy"unsichere Lesung
  • "(wegen unterschreibens des Padilla telegramms)"über der Zeile hinzugefügt
  • "ohne"unsichere Lesung
  • "N"sic
  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus
  • "… Felsenstein Herz"Auf diesen Namen folgt ein deleatur-Zeichen.

Einzelstellenerläuterung

  • "… 8 oder 9 Juli 1971"Datum vielleicht mit demselben Stift nachträglich notiert, gerade die Zahlen 8 und 9 haben eine minimal andere Farbe bzw. sind „dicker“ geschrieben.
  • "… lies den brief von herz"Hierbei könnte es sich um einen Brief von Joachim Herz vom 11. Juni 1971 handeln, der sich in Henzes Korrespondenz erhalten hat.
  • "… felsenstein habe ich nichts gehört,"In der Korrespondenz von Henze ist ein Brief von Walter Felsenstein vom 24. Juli 1971 überliefert.
  • [Abbildungsbeschreibung]Herz mit Pfeil von rechts oben nach links unten.
  • "ist würde"recte "würde".
  • "… ein konzert zugesagt habe dorten"Hans Werner Henze dirigierte vor dem 13. Oktober 1971 im Rahmen der Berliner Festtage ein Konzert mit dem Orchester der Komischen Oper. Auf dem Programm stand das 2. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven (Solist: Bruno Leonardo Gelber) und die 5. Sinfonie von Gustav Mahler; vgl. die Besprechung in: Neues Deutschland, 13. Oktober 1971.
  • "… (wegen unterschreibens des Padilla telegramms)"Vgl. die Anmerkung im Brief vom 30. März 1971.
  • "… sagte er mir am telephon)"Vgl. Autobiographie S. 371.
  • "… dem brief der natascha Ungeheuer"Diese Anmerkung bezieht sich wahrscheinlich auf einen Brief von Natascha Ungeheuer vom 12. Juni 1971, der in Henzes Korrespondenz überliefert ist.
  • cuanta ignorancia he tenido como se fuera una cosa querida
    • wie unwissend ich gewesen bin, als wäre ich ein liebes Ding
  • "… (oder das schlucken von felsensteinen"Wortspiel mit dem Namen von Walter Felsenstein.

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        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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