Brief (mit Umschlag) von H. W. Henze an P. Sacher, 23. Juni 1971

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La Leprara
00047 Marino (Roma)
Mittwoch, d. 23 Juni 1971
      mein lieber Paul,

bevor ich nun für einige wochen mein arbeitszimmer von aussen abschliesse
und mich der gärtnerei und dem schwimmen zuwende, möchte ich Dir
noch einiges zu meinem neuen werk sagen.

ich habe seit märz constant[sic] daran gearbeitet, unter mitwirkung von Nobrium 10*,
nachdem mir die generelle idee schon in basel gekommen war als Du
mir sagtest Du hättest gern wieder ein stück. “Compases“ ist also sozusagen
der ausgangspunkt. hinzugetreten ist noch die erfahrung mit dem lang-
wierigen weg in die wohnung der natascha ungeheuer
(in rom am
17. mai uraufgeführt) das ganze ist also einen ganzen schritt „voraus“
(meinem technischen und intellektuellen standart[sic] wie er sich in den letzten
werken geäussert hat) und ist viel komplexer, und fordert auch mehr
vom interpreten und hörern als die vorigen stücke. es ist ja immer
schwierig, von einem neuen stück sofort zu sprechen, es gibt noch keinen
abstand. also kann ich jetzt nur sagen was ich von der sache halte und
wie sie intendiert ist.

die partitur ist jetzt unterwegs nach mainz – mit glück könntest Du also
in 4–5 Tagen eine photokopie haben. ich habe es auch photographieren
lassen, damit es im falle eines verlusts, postseits etc. doch vorhanden
ist. ausserdem lasse ich jetzt die skizzen, particell etc. binden und schicke
sie Dir als erinnerungsstück und als zeichen meiner dankbarkeit für
Deine freundschaft.* gestern abend erhielt ich Deinen lieben brief als reaktion
auf mein stürmisches telegramm. Sei un gran signore! ich hoffe Du
kannst doch bald einmal an ort und stelle sehen, wie sich Deine freund-
lichkeit in schönes verwandelt und mir das leben erträglicher macht und
z. b. die unübersehbare tatsache, dass ich in 8 tagen 45 werde ...


La Leprara
00047 Marino (Roma)

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nun also zum stück: es ist zwar ein „konzert“ geworden (mit sologeie etc)
aber hat doch einen starken sinfonischen charakter. die orchesterbesetzung
ist grösser: 3-2-3-2 / 2-2-1 / harfe, 2 klaviere, mandoline,
gitarre, 4 schlagzeuger (von denen einer eine marimbula braucht, ein
instrument, dass ich Euch ausleihen könnte, wenn Du es nicht vorziehst,
für Deine schlagzeuger eine bessere bauen zu lassen, bei dem vorzüglichen
herrn grabmann in krefeld) / 0-4-3-2

einige instrumente sollen durch kontaktmikrophone verstärkt werden (die kleinen
verstärker in ihrer nähe stehend) und ich habe, wohl durch Gustav
Mahler
angeregt, ein neues gedicht von enzensberger hineingebaut, das
von dem theorem des mathematikers Gödel handelt, von münchhausen
und uns allen. ich fand das gedicht bewegend und “graziös“ in seiner
zerebralen genauigkeit (wird mit der partitur geschickt) und habe es in
kontrast zu der musik gesetzt, dann den widerspruch aufgehoben, ihn neu
entfacht. es müsste wie ein ganz dialektischer prozess wirken. es
kommt so ein “weltbild“ zustande (die linie Mahler auch hier zu
erkennen) und auch etwas zirkushaftes. brenton hat ein paar „aktionen“
(er sollte auch den lehrsatz von gödel sprechen, während er geigt!!)
und an einigen stellen spielt er doppelkanons mit sich selbst, indem
er mit anderen violinsoli, pre-recorded, vom tonband gehört wird, auf dem
auch der grösste teil des textes, für bassbariton gesetzt, aufgenommen werden
muss. diese arbeit sollte nächstes jahr gemacht werden, wenn brenton das
stück studiert hat. es entstehen keine neuen kosten dadurch, ich kann die
aufnahmen mit ihm in berlin auf der TU machen (oder gibt es in basel
ein gutes studio? modernes equipment? das wäre ein anlass, Euch auf dem
schönenberg zu besuchen) und schott trägt diese kosten, gibt dann die
bänder zum leihmaterial.

einen einführungstext für das programmheft werde ich später schreiben, wenn
ich mehr abstand habe.


La Leprara
00047 Marino (Roma)

3/
eines aber weiss ich genau, nämlich dass das stück von grosser wichtigkeit
ist, nicht nur für mich. es hat mich sehr mitgenommen, weil
es so insistent ist, keine ruhe gibt, es gibt fast keine
„lyrik“, sondern nur erregung, hurtiges, wildes, irrwitziges, böses und
trauriges (aber im allegro vivace tempo) und das 34 minuten lang.
und ich war und bin ganz allein damit. das ganze hat auch
etwas von einer “untersuchung“, einer recherche, einer analyse. sehr
viel tänzerisches (eben zirkushaftes)

(ich glaube Du müsstest es an den schluss eines konzerts setzen und
es sollte allein stehen, zumal es von spielern und hörern viel
konzentration fordert)

ein glück, dass schott viel zeit hat, eine exquisite partitur und ebenso
exquisites material herzustellen. Kannst Du mir das ungefähre aufführungsdatum sagen?
bin jetzt sehr müde und „ausserstande“ ...

bitte schreibe mir wenn Du in die partitur geschaut hast.

aber ich habe der welt in ihrer ratlosigkeit und der “modernen“ musikwelt
in ihrer snob attitude und “verneinung“ (nicht mal das, das wäre ja
doch wenigstens etwas) etwas zugefügt (nicht “hinzu“gefügt) und vielleicht
deutlicher denn je gesagt was ich von musik erwarte, was ich
mit musik meine, was ich mir unter musik vorstelle.

grüss Dich mein lieber Paul, ich erwidere Deine umarmung und erweitere
sie auf die Maja: grüsse sie tausendmal. auch die „fürstenkinder.“ *
herzlichst Dein
alter
hans werner


La Leprara
00047 Marino (Roma)

P.S.
Der grosse Mathematiker Kurt Gödel hat sein
Theorem in folgendem Aufsatz publiziert:
Über formal unentscheidbare Sätze der Principia
Math[e]matica und verwandter Systeme. Monatshefte
für Mathematik und Physik
Band 38 (1931)
S. 173–198

Gödel ist in Deutschland geboren, 1933 emigriert;
er arbeitet und lehrt am Institute for
Advanced Studies
in Princeton.*

Dies ist eine reduzierte Voransicht. Wechseln Sie für weitere Informationen zur Edition des Umschlags

[Umschlag, Manuskript]

Svizzera

Posta aerea
par avion

Paul Sacher
Schoenenberg
CH – 4133
   Pratteln
      Basel


La Leprara
00047 Marino (Roma)

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Elena Minetti; Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
    Signatur: Korrespondenz Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze, sehr leichtes blaues Papier
    • Faltung: 1mal längs, 1mal quer. Faltung im vierten kleineren Blatt: 1mal längs
    • Umfang

    • 4 Blätter
    • 4 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 298x214 [mm] (HxB)Abmessungen: 214x150 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Rand links: 3 cm; Rand links in dem vierten kleineren Seite: 2,2 cm. kein Einzug; Anführungszeichen unten-oben. WZ: mit Florentiner Lilie in einem Rondell.

Schreibstile

Textkonstitution

  • "constant"sic
  • "standart"sic
  • "… (meinem technischen und intellektuellen standart"Das Wort ist auch als „standort“ zu lesen, doch scheint „standart“ trotz der falschen Rechtschreibung wahrscheinlicher, da der drittletzte Buchstabe eher als „a“ zu lesen ist.
  • "… 2/"Die Seitenzahl steht auf der Höhe des Briefkopfs.
  • "zum""als" durchgestrichen und ersetzt mit "zum"
  • "… 3/"Die Seitenzahl steht auf der Höhe des Briefkopfs.
  • "… sehr viel tänzerisches (eben zirkushaftes)"Kein Punkt am Ende des Absatzes.
  • " “modernen“ "über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • "… unter mitwirkung von Nobrium 10"Ein Arzneimittel aus dem Hause Hoffmann-La Roche, das seit 1969 auf dem Markt war.
  • "… meiner dankbarkeit für Deine freundschaft."Vgl. hierzu den folgenden Brief von Sacher.
  • Sei un gran signore!
    • Du bist ein großer Gentleman!
  • "… sie tausendmal. auch die fürstenkinder."Hier dürften Sachers Töchter Cornelia (geb. 27. August 1961) und Katharina (geb. 12. August 1952) Gräfin von Faber-Castell gemeint sein.
  • "… Advanced Studies in Princeton ."Henze zitiert hier die Angaben aus dem Brief von Hans Magnus Enzensberger vom 19. Juni 1971.

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