Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 8. Juni 1971

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[Manuskript]

La Leprara
00047 Marino (Roma)
8. Juni 71 Lieber Mang,

ich möchte Dich nicht belästigen, jetzt wo Du gerade
zurückbist und mitten in die tragödie gekommen.*
deshalb nur ganz kurz:

ich habe felsenstein mitgeteilt, dass ich mit NET
abgeschlossen habe.* der vertrag sagt: nur englisch-
sprachige länder (plus japan) und dass die ursendung
am 1. III 73 stattgefunden haben muss. P.H. Adler
schreibt mir, im dez. 72 soll die produktion ge-
macht werden. aber Du hast ja 1 kopie seines briefs.*
er will uns ende august sehen ...

habe felsenstein mitgeteilt, dass die szenische uraufführung
6 tage nach dem 1. III. 73 sein kann. und dass
diese verschiebung folgende vorzüge mit sich bringt:

1. sie erlaubt Dir, ohne hast an der endgültigen version
zu arbeiten
(übrigens, wenn Du jetzt 6 wochen brauchst für das
schneiden des films *, würde ich ja wohl frühstens im
august das skript bekommen. habe nur bis ende
september
zeit zum komponieren, es folgt dann eine
endlose tournée von konzerten bis ende mai 72 , die nötig ist weil ich
seit oktober vorigen jahres nicht mehr dirigiert habe,


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keine angebote annehmen konnte, weil ich ja glaubte
ich führe any day nach Cuba. dies ist auch der
grund, warum ich die NET sache unterschrieben
habe: sie ergab einen sofortigen vorschuss. denn ich bin
absolut pennyless geworden. übrigens waren wir uns,
glaube ich, einig darüber, der NET die den vortritt
zu lassen, weil die komische oper uns bestimmt
keine „harte“ währung zahlen kann)

2. die verschiebung erlaubt mir, in ruhe an der
komposition zu arbeiten, hauptsächlich nächstes jahr.

3. sie erlaubt die herstellung eines korrekten orchester-
materials

4. sie erlaubt der komischen oper längere probenzeit.
vielleicht erlaubt sie auch, auf götz friedrich zu-
rückzukommen? und herz loszuwerden?

ich versuche, eine photokopie meines briefs an felsen-
stein
beizulegen, aber fausto meint, auf dem blauen
papier geht es nicht. werden versuchen.

Lieber mang, es ist schade, dass die zeit so
schnell vergangen ist, und dass ich wie ein gehörnter liebhaber
auf Rachel, die neue, warten muss. ich will Dir
keinen vorwurf machen, ich weiss wie lange es
dauert, einen film zu machen und ihn zu schneiden.


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habe auch keine zeit verloren und habe mit viel
konzentration an diesem violinkonzert gearbeitet (das
erst 1973 aufgeführt werden kann) – aber ich
kann die chansons nicht schreiben, wenn ich das
neue buch nicht habe. ich muss alles im zeit-
lichen ablauf entwickeln können. die musik voll-
zieht den doch mit, und die spannungen, und
das steigen und fallen der dramatischen kurven, muss
von der musik miterlebt werden. ich kann jetzt
nicht wissen, z. b., wie das astern-duett aus-
fällt, wenn ich nicht vorher den chor der zeugen
geschrieben habe. (es ist auch eine frage der tempi,
der farben, der tonarten)

ich will Dich jetzt nicht treiben. aber ich bitte
Dich, nach marino zu kommen, wenn Du mit dem
film fertig bist; vielleicht kannst Du in 10 tagen
alles unter dach und fach bringen. (übrigens habe
ich einen Cimarrón-darsteller* gefunden, aber es wäre
schade wenn er ausser zu sprechen (kann perfekt
deutsch) nicht auch etwas singen würde (weil er
eine fabelhafte stimme hat) z. b. beim disput
mit Rachel. er ist 1.80 m gross und ziemlich
schön. sehr männlich.


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schreckliches gefühl, Dich zu belästigen und zu
langweilen- bitte nimm es mir weg. ich
hänge sehr
        1) an Dir
        2) an unserem Vaudeville

das „geständnis“ von Heberto, der suizid von Leos
frau
, und nun dieses entsetzliche Geschehen, das
alles macht mich so fertig dass ich nur einen
ausweg weiss: arbeiten, viele viele stunden jeden
tag, mit drogen schlafen, sich mit drogen wieder
fit machen, weiter arbeiten. vielleicht können wir
nie mehr froh werden. das ist eine gute voraus-
setzung für sachen wie “Rachel“ (ich meine es
wirklich) aber für wenig sonst. jetzt, während Du
den film schreibe schneidest, schreibe ich eine musik
für Gastón
.

über das violinkonzert und die art, wie ich Dein
wunderbares Gödel-Gedicht (das mir wie ein kommentar
zu „staat und revolution“ vorkommt) darin verwendet
habe, schreibe oder erzähle ich Dir. es ist noch nicht
ganz fertig. ich melde es der Gema an wie es üblich
ist. Du erhältst dann automatisch über die “verwertungs-
gesellschaft wort“
Deine anteile. aber nicht morgen,


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sondern erst nach der ersten aufführung, ich glaube im
frühjahr 73 soll sie sein.* (die gleiche prozedur
wie im Cimarrón) schott-vertrag wird kommen, sobald ich das
stück fertig habe. veranlasse es heute.

hast du Zeit, mir ein paar Zeilen zu schreiben?
ich komme mir sehr vergessen vor, aber bin
Dir nicht böse, obwohl eifersüchtig auf das
Zelluloid, und die Kabel und die ampexe oder
wie die scheissdinger heissen.

und umarme dich etwas eingeschüchtert –
hans

P.S. kannst Du mir 3–4 zeilen
Gödel biographie schicken?*

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: mittelblaues Papier La Leprara Nr. DinA5, dünnes Papier
    • Faltung: 1mal quer auf DinA6
    • Umfang

    • 5 Blätter
    • 5 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 215x150 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Absatz keine Einrückung, kein Abstand
    • Das Datum und die Seitenzahlen stehen rechts neben dem Briefkopf.
    • Rand links: 2 cm
    • Anführungszeichen: unten-oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "ursendung""premiére" durchgestrichen und ersetzt mit "ursendung"
  • "6""8" überschrieben mit "6"
  • "bis ende mai 72 "über der Zeile hinzugefügt
  • "die"durchgestrichen
  • "l""m" (unsichere Lesung) ersetzt durch "l"
  • m
  • "gehörnter"über der Zeile hinzugefügt
  • "schreibe"durchgestrichen
  • "… fertig habe. veranlasse es heute."Der letzte Satz ist wahrscheinlich nachträglich eingefügt, denn die letzte Zeile ist sehr eng zu dem nächsten Absatz.

Einzelstellenerläuterung

  • "… mitten in die tragödie gekommen."Es ist nicht eindeutig, welche Tragödie Henze hier meint und dies wird auch aus der Reaktion Enzensbergers vom 19. Juni 1971 nicht deutlich. Es hat aber sicherlich mit den Folgen für die Unterzeichner des Telegramms für Heberto Padilla und seine Frau zu tun und mit Luigi Nonos Selbstkritik, die ihm trotz Unterzeichnung des Telgramms eine Einreise nach Kuba erlaubte. Vgl. hierzu Henzes Bericht in seiner Autobiographie S. 370f.
  • "… ich mit NET abgeschlossen habe."In der PSS existiert ein Brief Henzes an Felsenstein vom 7. Mai 1971, in dem er ihm möglicherweise diese Mitteilung gemacht hat.
  • "… ja 1 kopie seines briefs."Henze und Enzensberger schreiben mehrfach, dass sie immer wechselseitig die Briefe Adlers in Kopie erhalten.
  • "… für das schneiden des films"Enzensberger arbeitete zu dieser Zeit an folgendem Film: Durruti – Biographie einer Legende – Ein Film-Roman. (Buch, Regie).
  • "… habe ich einen Cimarrón -darsteller"Wen Henze hier meint, ließ sich nicht ermitteln.
  • "… frühjahr 73 soll sie sein."Die Uraufführung fand bereits am 2. November 1972 in Basel statt.
  • "… 3–4 zeilen Gödel biographie schicken?"Vgl. die Angaben im folgenden Brief Enzensbergers.

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