Letter (with Envelope) from H. W. Henze to G. Weil, December 1, 1964

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      Meine lieb Butza,

ich muss dies nach Frankfurt schicken, wo Du es hoffentlich bekommst, denn
ich konnte die Tessiner Adresse nicht lesen* und mein altes Adress-
buch ist verschollen. Hab mich sehr über Deinen Brief * gefreut und
danke Dir sehr dafür. That summer I read your new book war sehr
hektisch, weil ich so viel komponierte*, so habe ich es zwar gelesen,
aber immer nur abends vor dem Einschlafen, und ich habe einen
zwiespältigen Eindruck behalten, vor allem weiss ich nie, ob die Schmerzen
die des Buches waren oder die meines derzeitigen Zustands. Trotzdem
hätte ich mich bedanken müssen und gleich schreiben. Die Stadt, in
der das Buch sich abspielt*, kenne ich nun auch und habe ich sehr
lieben gelernt (fuhr immer aus dem grässlichen Düsseldorf, wo ich 6
Wochen wegen des Prinz von Homburg sein musste*, hinüber, et faisais
l’amour avec un très étrange garcon, moité Holondais, moité Indonais)

und soll wohl auch der Kunst halber öfters mal wieder dort aufkreuzen.
Tut mir so leid, dass Du Schwierigkeiten mit der Gesundheit hattest,
hoffentlich ist nun wieder alles in der Ordnung. Wir müssen uns
wirklich bald einmal wiedersehen. Ich komme jetzt kaum noch nach
Deutschland, immer nur ganz kurz, um ein Konzert hier oder da
zu tun, dann gleich wieder weg (es gibt jetzt direkte jets nach Rom)
– hier ist es schon wirklich sehr schön. Ruhig, und in naher Ferne Rom,
die sehr faszinierende elegante, vulgäre, traurige, witzige, hurige edle Stadt,
die ich so selten wie möglich aufsuche. Diesen Sommer habe ich eine
komische Oper beendet, auf ein Libretto von Ingeborg Bachmann der junge Lord
es kommt in Berlin am 7. April heraus. Danach machen es Stuttgart, dann


Rom, Bologna, Florenz, Venedig und Palermo, und hoffentlich etliche deutsche
Bühnen auch. Und seit einigen Wochen (dazwischen war ich zum Ausruhen
in Lybien, in der Wüste was mir in der Seele nachhängt wie eine
Krankheit: dort sollte man leben!) arbeite ich an einer neuen Oper,
einer tragischen, schlimmen, grossen auf ein Libretto von Auden-Kallman:
The Bassarids, das ist eine freie Nachdichtung der Bacchae des Euripides.
Bis jetzt geht es sehr gut, aber es kommt sicher bald wieder die Zeit
der Qual und Schwierigkeiten, wie könnte es anders sein. Mein geliebter
Folker hat mich 7 Monate lang allein gelassen, weil er eine Süd-
amerika-Tournée gemacht hat, den Hamlet spielend.* Er kommt Weihnachten
zurück, endlich. Wir sind auch dabei, ein Haus zu bauen. Ich habe
voriges Jahr einen alten Olivengarten gekauft, mit einer schönen Mauer
rundherum (9000qm.) und demnächst soll es losgehen*. – Künstlerisch ist
alles gut und geht gut und geht voran, zuweilen kommen mehr oder
weniger erträgliche Angriffe, die man ja fast immer ignorieren kann, die
aber oft auch erbosen[sic] wegen der ihnen innewohnenden Dummheit und Be-
schränktheit. Mit Kollegen verkehre ich überhaupt nicht mehr, nur noch mit
Schriftstellern und Malern und dergleichen, es gibt da in Rom eine ganze
Anzahl sehr kluger und lieber Leute, die einen auch so manches lehren.
Besonders adoriere ich Elsa Morante, wenngleich diese oft statt Morante
Delicante genannt zu werden verdient. Momentan habe ich einen jungen
echten Italiener
zur Gesellschaft, mit viel charme[sic] und unglaublicher Anmut
und an Eleganz alles übertreffend, und es ist eine grosse affaire. Er
arbeitet viel, als Bühnenbildner und Assistent von Visconti, sodass ich sogar
trotzdem zum Schreiben (auch der Musik) komme. Er macht mit mir 3 Einakter von
mir* im kleinen Frankfurter Haus,
nächsten Herbst.
Das waren so meine
Neuigkeiten. Neulich sendete die R.A.I. das alte Boulevard-Band. Doch ein
gutes Stück! Hatte es jahrelang nicht mehr gehört und war sehr gerührt.
Bitte grüße den Butzi sehr herzlich.

Alles Liebe
Dein
Hänschen

This is a reduced preview. For further information switch to the edition of the Envelope

[Envelope, Manuscript]

Germania Ovest

[Figure: ]

Frau Grete Weil
      Ostendstrasse 1
    Frankfurt a. M.


Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Tradition

  • Text Source: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Shelf mark: GW 31

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • helles Papier, Büttenrand
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Extent

    • 1 folio
    • 2 written pages
    • Dimensions: 298x212 [mm] (HxW)
    • Layout

    • Rand: 2,5 cm

Writing styles

Text Constitution

  • "erbosen"sic
  • "se""??" overwritten with "se"
  • "charme"sic
  • "Er macht mit … Haus, nächsten Herbst."added in the left margin, Text turned clockwise (270°)
  • "… "Der Text beginnt 8 cm über dem unteren Blattrand.
  • "… Alles Liebe Dein"Diese zwei Zeilen sind jeweils nur eine halbe Zeile nach unten versetzt.

Commentary

  • "… die Tessiner Adresse nicht lesen"Weil/Jockisch hatten seit Ende 1960 ein Haus in Contra im Tessin; vgl. den Brief vom 12. November 1960.
  • "… mich sehr über Deinen Brief"Dieser Brief ist bislang nicht nachgewiesen.
  • "… weil ich so viel komponierte"Wie Henze unten schreibt, schloss er im Sommer Der junge Lord ab, aber er überarbeitete in diesem Jahr auch sehr viele frühere Werke; vgl. das Werkverzeichnis auf der Seite der Henze-Stiftung.
  • "… der das Buch sich abspielt"In “Tramhalte Beethovenstraat” dokumentiert und verarbeitet Grete Weil ihre Zeit der Flucht vor den Nazis in Amsterdam.
  • "… Prinz von Homburg sein musste"Die EA des “Prinzen von Homburg” in Düsseldorf fand am 21. Mai 1964 statt.
  • et faisaisl'amour avec un très étrange garcon, moité Holondais, moité Indonais)
    • und liebte einen sehr ungewöhnlichen Jungen, halb holländisch, halb indonesisch
  • "… gemacht hat, den Hamlet spielend." Ilja Bohnet schreibt zu dieser Tour: “Zudem nahm Folker 1964 für die Deutschen Kammerspiele ‘Santiago de Chile’ unter Leitung von Reinhold K. Olszewski an einer internationalen Tournee teil, die quer durch Südamerika führte – ein für alle Beteiligten einmaliges, berauschendes Erlebnis.” (vgl. den Nachruf vom 7. Oktober 2020 im Persönlichen Blog des Physikers und Autors Ilja Bohnet Spannungsfelder.
  • "… und demnächst soll es losgehen"Dies ist die erste Erwähnung zum Bau von “La Leprara” in Marino (Rom).
  • "… mir 3 Einakter von mir"Am 30. November 1965 wurden in Frankfurt Das Ende einer Welt, Ein Landarzt und die revidierte Fassung von Das Wundertheater aufgeführt. Die Bühnenbilder und Kostüme zum Wundertheater und zu Das Ende der Welt verantwortete Jacques Camurati.

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

        If you've spotted some error or inaccuracy please do not hesitate to inform us via henze-digital [@] zenmem.de.