Brief [Durchschlag] von F. Hitzer an H. W. Henze, 5. August 1969

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[Typoskript]

Herrn
Hans Werner Henze
La Leprara
Via des[sic] Fontanile
Marino /Roma

München, 5. Aug. 1969
FH/GC

Lieber Hans Werner Henze,

offenbar hat es mit Ihrem Besuch in München doch nicht mehr
geklappt. Ich hatte jedenfalls vergeblich auf Ihren Anruf
aus Berlin gewartet. Vielleichthaben Sie doch angerufen, und
ich war gerade nicht in der Nähe des Telefons.

Haben Sie unser letztes Heft* erhalten? Gelesen? Und was meinen
Sie dazu? Nicht daß ich Sie damit zu einem längeren Brief auf-
fordern wollte. Aber es wäre doch interessant zu hören, was Sie
über die Beiträge aus und über Vietnam * und zu unserem "offenen
Brief an den jugoslawischen und rumänischen Schriftstellerver-
band"
* Kritisches zu sagen hätten.

Für unser Dezember-Heft* planen wir Beiträge zum Thema Imperialis-
mus und Kultur. Wir wollen dabei vor allem die Problematik des
deutschen Imperialismus behandeln: die verschiedenen Stoffe und
Themen der Massenkultur sowie jene Formen des Protests, die,von
den herrschenden Kreisen mühelos in die Steuerungsmechanismen
des geplanten Kapitalismus integriert werden.*

Sie hatten mir seinerzeit in Ihrem Brief geschrieben, wie schwie-
rig es sei, den gerade in der Bundesrepublik so gut "geölten Kapi-
talismus"
für die Massen durchschaubar zu machen. Das ist in der
Tat eine immens schwierige Aufgabe, die viel Geduld und Beharr-
lichkeit erfordert. Das dürfte für die Musik noch viel kompli-
zierter sein als etwa für die Literatur. Sie haben sich sicher-
lich darüber Gedanken gemacht. Was halten Sie davon, wenn Sie
Ihre Überlegungen in einem Aufsatz zusammenfaßten, den wir dann
in unserem Dezember-Heft abdruckten?*

Bitte überprüfen Sie den Text des Wahlaufrufs, der diesem Brief
beiliegt. Vielleicht können Sie ihn durch Ihre Unterschrift unter-
stützen. Martin Walser hat ihn formuliert.

Über die Verschleierungsfunktion des Parlamentarismus sind wir
uns gewiß nicht uneinig. Solange jedoch die Tribüne des Parla-
ments von den Massen als Entscheidungsgremium mitangesehen wird,
kann die Linke diese Plattform aus ihren Aktionen nicht aus-
klammern. Die Reaktionen des Gegners beweisen es: beispielsweise
funktioniert das Totschweigen der ADF in der gesamten Münchner
Presse in einem Maß, als hätte man die Redaktionen allesamt dazu
angehalten.


- 2 -

Die Wählerinitiative von Günter Grass ist Ihnen bekannt.* Es ist
für das gegenwärtige Bewußtsein vieler Intellektueller bezeichnend –
angesichts des immer offener auftretenden Neonazismus (in all seinen
Formen) –, nachdem sie sich noch vor einem Jahr nicht revolutionär
genug geben konnten, nun zur Mutter SPD zurückzukehren. Wenn’s nur
die Mutter wär. Ich denke dabei an den offenen Brief von Reinhard
Baumgart
an Willy Brandt. Es ist schwer zu entscheiden, was hier
gewichtiger ist: die letzte Hoffnung oder ein weiteres Alibi.
Es ist jedenfalls eine Illusion. Bei dem Stand der sozialdemokratischen Führung
und ihrer Politik ist eine Stimme für die SPD
eine Stimme für Franz Josef Strauß und damit auch eine Stimme gegen
die demokratischen Kräfte der SPD. Wohin das führt, zeigte unlängst
die Verfügung des bayerischen Landtags, die Münchner Akademie schließen
zu lassen: der Beschluß kam von der CSU, NPD und der Mehrheit der SPD.*

Das erinnert in fataler Weise an die Gruppe Stampfer in Prag: als
sozialdemokratische Führer – darunter Ollenhauer – 1935 im Prager
Manifest* selbstkritisch feststellen mußten, daß siehan[sic] der Macht-
übernahme der Nazis nicht unschuldig gewesen seien, als sie for-
mulierten, daß der Faschismus die Unterschiede in der Arbeiterbe-
wegung ausgelöscht habe, daß also nur die gemeinsame Aktion aller
Arbeiterparteien den Faschismus und Kapitalismus mit Erfolg be-
kämpfen könnte n, trat Stampfer in Opposition. Sein Argument: wir
sind zu spät gekommen; d ie Lehre aus 1933 besteht für uns darin,
daß eine Volksfront ein für allemal ausgeschlossen sei. Die Stampfer
sind heute die Mehrheit in der SPD-Führung. Wehner hat mehrmals er-
klärt, für sie bestünden die Lehren aus dem Jahr 1933 darin, daß
sich die Sozialdemokraten niemals mehr aus dem Staat drängen lassen
dürfen. Daraus folgt logisch: wir beteiligen uns an den Notstands-
gesetzen, wir bereiten Gesetze für die Vorbeugehaft vor, wir machen
die Geschäfte des Monopolkapitals. Wie weit soll das gehen? Der Fraktions-
sprecher der SPD, Martin Hirsch, der auch die Vorbeugehaft initiierte,
sagte neulich, die NPD soll nur in den Bundestag kommen. Jetzt gibt
er noch vor – damit wir sie dort entlarven können. In München haben
sie schon gemeinsam gehandelt. Erinnern Sie sich an die Aussage, die
sehr weit verbreitet war – der Hitler soll nur an die Macht, der wird
sich bald abgewirtschaftet haben. Golo Manns Vorschlag läuft hinsicht-
lich der NPD auf dasselbe hinaus.* Bestürzend ist nur, daß die Unter-
scheidung zwischen CDU/CSU und SPD – vor allem für die Massen – nicht
möglich ist, die Politik beider objektiv dieselbe, und die Unterschei-
dung zwischen CDU/CSU und NPD lediglich für außenpolitische Erklärung
herhalten muß. Betrachten Sie einmal in diesem Zusammenhang die Po-
litik der KPI-Führung gegenüber den socialdemokratischen Führern.

In einem Brief lassen sich diese Dinge natürlich nur antippen.
Bitte schreiben Sie mir und rufen Sie in jedem Fall an, wenn Sie
in diese Gegend kommen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie für
unser Dezember-Heft* einen Beitrag schrieben.

Mit freundlichen Grüßen von Ihrem

(Friedrich Hitzer) 1 Anlage *

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: München (Deutschland), Stadtbibliothek (D-Mst), Monacensia
    Signatur: FH B 363

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dünnes helles Durchschlagpapier; gelocht
    • handschriftliche Ergänzungen mit sehr dunkler blauer Tinte
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x212 [mm] (HxB)
    • Layout

    • einzeilig, Absätze durch Leerzeile getrennt, lR: 2,2cm, Flatterrand

Schreibstile

Textkonstitution

  • "des"sic
  • "w""s" ersetzt durch "w"
  • "… Berlin ge w artet. Vielleichthaben"Kein Leerzeichen zwischen den Worten
  • ","in der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Füller (dunkelblau), Hitzer, Friedrich
  • "a""q" ersetzt durch "a"
  • "K""k" ersetzt durch "K"
  • "z""m" ersetzt durch "z"
  • "n""h" ersetzt durch "n"
  • "… jene Formen des Protests, die,von"Kein Leerzeichen nach dem Komma.
  • "i""9" ersetzt durch "i"
  • "r""f" ersetzt durch "r"
  • "r""[unleserlich]" überschrieben mit "r"
  • "es"über der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Füller (dunkelblau), Hitzer, Friedrich
  • "e""i" ersetzt durch "e"
  • "r""e" ersetzt durch "r"
  • "s""w" ersetzt durch "s"
  • "J""H" ersetzt durch "J"
  • "l"in der Zeile hinzugefügt
  • "i"in der Zeile hinzugefügt
  • "siehan"sic
  • "ö""s" ersetzt durch "ö"
  • "n"durchgestrichen, handschriftlich, Füller (dunkelblau), Hitzer, Friedrich
  • "; d"". D" ersetzt durch "; d", handschriftlich, Füller (dunkelblau), Hitzer, Friedrich
  • "l""o" ersetzt durch "l"
  • "n"über der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Füller (dunkelblau), Hitzer, Friedrich
  • "e""t" ersetzt durch "e"
  • "s""z" ersetzt durch "s"
  • "t""l" ersetzt durch "t"
  • "A""Q" ersetzt durch "A"
  • "h""i" ersetzt durch "h"
  • "der"über der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Füller (dunkelblau), Hitzer, Friedrich
  • "gegenüber den socialdemokratischen Führern.""." durchgestrichen und ersetzt mit "gegenüber den socialdemokratischen Führern.", Typoskript
  • "socialdemokratischen"sic
  • "t""ü" ersetzt durch "t"
  • "B""N" ersetzt durch "B"
  • "n""b" ersetzt durch "n"

Einzelstellenerläuterung

  • "… Haben Sie unser letztes Heft"Heft 3, 1969 des "kürbiskern".
  • "… und über Vietn a m"Das Heft wird mit Veröffentlichungen vietnamesischer Dichter und Beiträgen zu Vietnam: Eduard Claudius "Drei Märchen aus Vietnam" und Gabriele Sprigath "Über die vietnamesische Kulturfront" u.a. eröffnet. Außerdem liegt dem Heft ein 16-seitiger Sonderdruck mit dem Titel "Notaktion Vietnam 69" bei, der von Friedrich Hitzer, D. Martin Niemöller und Gabriele Sprigath unterzeichnet ist.
  • "… jugoslawischen und rumänischen Schriftstellerver band"Das Heft wird mit einem 5-seitigen "Brief" an die Schriftstellerverbände der Rumänischen und Jugoslawischen Volksrepublik (S. 566–572) beschlossen. Dieser reagiert auf eine Reise von Günter Grass und Eberhard Lämmert im Auftrag des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik, die von einer Ausstellung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels begleitet wird. An dieser Ausstellung durfte sich der "kürbiskern" beteiligen. Dennoch sahen sie sich in diesem Brief veranlasst, auf den politischen Charakter der Reise von Günter Grass hinzuweisen und ihre Position gegenüber diesem und seinem Einsatz für die SPD deutlich zu machen.
  • "… Für unser De z ember-Heft"Heft 1/1970 des "kürbiskern".
  • "… des geplanten Kapitalismus integriert werden."In Hefte 1 (1970) des "kürbiskern" gibt es nur einen Aufsatz, der direkt dies Thema aufgreift: Oskar Neumann, "Deutscher Imperialismus – noch aktuell?", S. 135–152. In Heft 2 folgen dann weitere Beiträge, z. B.: Friedrich Hitzer, "Kultur im Klassenkamp", S. 249–269 und Michael Buselmeier, "Die Funktion des Theaters im Spätkapitalismus". S. 290–304.
  • "… dann in unserem Dezember-Heft abdruckten?"Zu diesem Beitrag vgl. die folgenden Briefe.
  • "… Günter Grass ist Ihnen bekannt."Im Wahlkampf für die Bundestagswahl am 28. September 1969 unterstützte Günter Grass – wie auch schon in vorigen Wahlkämpfen – Willy Brandt. Er gründete hierzu die Sozialdemokratische Wählerinitiative.
  • "… der Mehrheit der SPD ."Dieser Beschluss von Kultusminister Ludwig Huber wurde später gerichtlich aufgehoben.
  • "… – 1935 im Prager Manifest"Das sog. Prager Manifest wurde am 28. Januar 1934 (!) im "Neuen Vorwärts" veröffentlicht.
  • "… der NPD auf dasselbe hinaus."Golo Mann, "Das Kaninchen baut die Schlange auf". Historiker Golo Mann über die Nationaldemokratische Partei, in: "Der Spiegel" 22. Jg., Heft 21 (20. Mai 1968), S. 38f. Golo Mann kritisierte den Bundestags-Wahlkampf Kurt Georg Kiesingers allein gegen die NPD und meinte, die Partei würde sich bei einer Regierungsbeteiligung selbst entlarven oder aber zeigen, dass sie eine 'normale' demokratische Partei sei.
  • "… wenn Sie für unser Dezember-Heft"Heft 1/1970 des "kürbiskern" .
  • "… Friedrich Hitzer ) 1 Anlage"Diese Anlage, der Wahlaufruf der ADF, liegt dem Brief nicht mehr bei, da Henze ihn zurückgeschickt hat; vgl. den folgenden Brief.

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