Brief von H. W. Henze an F. Hitzer, 20. Januar 1969

Zurück

Einstellungen

Zeige Markierungen im Text

Absolute Chronologie

Vorausgehend

Folgend


Korrespondenzstelle

Vorausgehend

Folgend

[Manuskript]

La Leprara
via del fontanile
marino (Roma)
20. 1. 69
Lieber Friedrich Hitzer,

Ihr Brief hat mich sehr gefreut, zumal die Vehemenz des
„Fertigmachens“ ebenso erstaunlich ist wie Seltenheit von Solidarität-
bezeugungen. Aber eines ist immerhin klar: Die Herren haben
die Masken abgenommen, abnehmen müssen, und ich bin sehr
zufrieden, dass nun keiner von ihnen mehr sagen kann „he is
our boy
“ – seit Jahren habe ich mit allen möglichen Mitteln
versucht, darauf hinzuweisen, dass ich es nicht bin, aber es
ist nicht gelungen, weder in Wort noch in Musik, nun ging es
plötzlich: durch Aktion.* Sehr lehrreich.

Vielen Dank auch für die Übersendung der Kürbiskerne *. Die eine Nummer
kannte ich schon, steht viel Brauchbares drin. Die neue muss ich erst
lesen. Ich arbeite seit dem Sommer schon mit einigen Genossen an einem Buch (Tonbandgespräche)
über die Lage der Musik – es ist schwer.* Schwer ist auch, überhaupt
gemeinsam zu kämpfen (meine Hauptaktivität ist übrigens seit Jahren, hier in
Rom, meine gelegentlichen Sachen in Deutschland sind eben nur gelegentliche)
es entstehen schnell und leicht Meinungsverschiedenheiten, wie Sie ja selbst
kürzlich deutlich haben sehen können*, und es bricht auseinander. Das
dürfte nicht passieren, wenn das Ziel immer absolut fest vor Augen stünde.
Das grösste Obstakel ist der geschmeidig und gut geölt funktionierende Apparat
des Kapitals in der BRD – die offenen Widersprüche muss man suchen, aber die
sublimeren Widersprüche den Massen klarzumachen ist enorm schwer. Es fängt alles
erst an. Das letzte Berliner Wochenende (Rosa-Demonstration)* war ein
Fortschritt: sehr militant, und es sind jetzt auch junge Arbeiter


La Leprara
via del fontanile
marino (Roma)

Lehrlinge und Schüler dabei. Interessant ist auch zu sehen, wie sich
die Theoretiker (Habermas etc.) nun verhalten*, nachdem ihre
Schüler Ernst machen – und ich glaube dass es Ernst ist und nicht
aufhört: dies ist keine Hippy-Mode oder sowas, dies ist ein
Anfang und es wird weitergehen, das Aufbrechen – nun sind sie
erschreckt und sprechen abfällig, manche sagen „Mob“ und solche Sachen.
und alles was antiautoritär sich verhält (um das „sich“ so zu setzen
wie die Adorniten*) so wie es konsequent (und gefährlich, vielleicht
sogar für das eigene Lager, wie eine Zerreissprobe) ist, plötzlich
nicht mehr koherent und „muss in Zweifel gezogen werden“,
weil sich das Antiautoritäre nun auch gegen jene wendet die es als Idee
lançiert haben. Und so.

    Was mit meiner Musik nun wird, das weiss ich noch nicht so genau.
D.h. wie ich sie am vernünftigsten in den Prozess integrieren kann,
wie sie Z am Zerbrechen der Macht der europäischen Bourgeoisie mitarbeiten
kann. ich denke, wahrscheinlich am ehesten in Form eines langen und
listigen „Marsches durch Institutionen“ aber listig muss es sein, sonst wird
er sehr kurz ... die Herren passen nun scharf auf. ich sehe es
bereits, schon wenige Wochen nach Hamburg * beginnt es ... und ob ich ihnen
weiterhin wie mit Vaseline die Subversion hineinschieben kann, ist sehr die
Frage. Hinzu kommen meine eigenen sprachlichen Probleme, die Probleme
sind, nicht weil sie von der offiziell für modern (sogar für revolutionär!!!)
propagierten Musiksprache der Evolution und Sprachlosigkeit und Abstraktion abweicht,
sondern weil sie, wie alles was uns zur Verfügung steht, sprachliches
Material ist, das fast 200 Jahre Bourgeoisie hinter sich hat!

Wenn ich in München bin, rufe ich Sie an. Aber wann bin ich dort?

Mit sozialistischen Grüssen Ihr hans werner henze

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung

Überlieferung in 2 Textzeugen

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: FH B 363

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dünnes helles Briefpapier: BP_Henze_03
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x215 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • gelocht
    • Layout

    • lR: 4 bis 3,5 cm; auf S. 2: 3cm; Anführungszeichen unten-oben; linker Einzug Absatz (auf 2. Seite): 1cm.
  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
    Signatur: Hitzer, Friedrich

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Thermokopie
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x215 [mm] (HxB)
    • Layout

Schreibstile

Textkonstitution

  • "seit dem Sommer schon"über der Zeile hinzugefügt
  • "offenen"über der Zeile hinzugefügt
  • "Z"durchgestrichen

Einzelstellenerläuterung

  • "… ging es plötzlich: durch Aktion."Hier spielt Henze auf die Ereignisse bei der geplanten Uraufführung von „Das Floß der Medusa“ am 9. Dezember 1968 in Hamburg an: Der Skandal wurde nicht durch das Werk hervorgerufen, sondern durch die Platzierung eines Bildes von Che Guevara bzw. einer roten Fahne. Vgl. hierzu Habakuk Traber, „musik ergreift die fahnen: die skandale um henzes ‚floß der medusa‘ und nonos ‚intolleranza‘ 1960“, in: „Neue Zeitschrift für Musik“ Bd. 161 (Mai/Juni 2000), S. 34–41.
  • "… für die Übersendung der Kürbiskerne"Vgl. hierzu die Nachweise in dem vorangehenden Brief von Friedrich Hitzer.
  • "… Musik – es ist schwer."Dieses Buch ist nicht erschienen.
  • "… kürzlich deutlich haben sehen können"Hier spielt Henze auf die Beschreibung Hitzers im vorigen Brief von dem Streit und der daraufhin erfolgten Trennung des Herausgeberteams der Zeitschrift „kürbiskern“ an.
  • "… Das letzte Berliner Wochenende (Rosa-Demonstration)"Henze spricht hier die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an. Am 15. Januar 1969 wurde in West-Berlin demonstriert und am 18. Januar fanden in Ost-Berlin Gedenkfeiern statt, an denen Westberliner Vertreter*innen der Studenten teilnahmen.
  • "… ( Habermas etc.) nun verhalten"Auf den sog. Vietnam-Kongressen z. B. in Frankfurt (1966) und Berlin (1968) sprachen auch bereits etablierte Intellektuelle wie Herbert Marcuse und Jürgen Habermas.
  • "… zu setzen wie die Adorniten"Anhänger von Theodor W. Adorno. Henze spielt hier auf deren Sprachstil an, das Reflexivpronomen „sich“ möglichst weit nach hinten zu setzen.
  • "… schon wenige Wochen nach Hamburg"Hier spielt Henze auf den Skandal bei der Uraufführung von „Das Floß der Medusa“ an.

        XML

        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

        Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
        so bitten wir um eine kurze Nachricht an henze-digital [@] zenmem.de.