Brief von F. Hitzer an H. W. Henze, 12. Januar 1969
[Typoskript]
12.1.1969
Friedrich Hitzer
8 München 13
Elisabethstrasse 3 • Telefon 37 46 53
Herrn
Hans Werner Henze
Marino-Roma
"La Leprara"
Via del Fontanile
Lieber Hans Werner Henze,
es war zu spät, Ihnen gleich noch in der Nacht
zu schreiben, als im westdeutschen Fernsehen ein
arrogant-dummer Bericht über Ihre politische Ent-
wicklung ausgestrahlt wurde.* Freilich ist dies
nicht der besonderen Aufmerksamkeit wert, weil
der Tenor jener Sendung für die Meinungsbildung
in der BRD cha‡rakteristisch ist. In Ihrem "Fall"
ist jedoch eine Seite bemerkenswert: ein Repräsen-
tant jener radikalen künstlerischen Avantgarde, die
speziell in den 50er Jahren dadurch Politik machten,
daß sie den‡ Künsten jede politische Relevanz verwei-
gerten, vollzieht eine Wendung, die für den Propa-
gandaapparat des bürg‡erlichen Kulturbetriebs eine
Ohrfeige bedeuten muß. Und gerade, weil Sie zu den
Prominenten gehören. Es ist erstaunlich, mit welcher
Vehemenz man Sie‡
"fertig"
‡ machen will. Erlauben Sie
mir deshalb, Ihnen meine volle Solidarität gegen
derartige Angriffe auszusprechen.
In einem der Interviews der Fernsehsendung* beriefen
Sie sich als revolutionärer Künstler auf Lenin.* Es
gibt wenige unter der künstlerischen Intelligenz der
Bundesrepublik, die sich auf Lenin berufen, und von
denen, die es heute tun, gibt es nicht allzuviele, die
ihn kennen – d. h. ent‡sprechend‡ der gegenwärt‡igen Bedin-
gungen ausle‡
g‡en und anwenden. Ich würde mich mit Ihnen
gerne persönlich darüber unterhalten. Mein Interesse
ist nicht nur theoretisch, sondern vor allem praktisch
begründet. Es ist notwendig, den Weg gemeinsam einzu-
schlagen, den Sie, soweit ich durch die bürgerlichen
M‡edien informiert bin, begehen. Die gesellschaftliche
Veränderung der BRD ist heute wie zu Lenins Zeiten eine
Schlüsselfrage: wer den Charakter des westdeutschen Im-
perialismus, als einem Teil der imperialistischen Global-
strategie, verkennt, kommt zwangsläufig zu falschen
Schlüssen. Ich meine, daß der kulturellen Arbeit eine
eminente Bedeutung zukommt.
Vermutlich kennen Sie den Gen. Pestalozza von der "Ri-
nascita"
*, der mich anläßlich seiner Deutschlandreportage
zwei Mal aufsuchte.* Wir sind uns, was die gesamteuropä-
ische Strategie betrifft‡
in wichtigen Fragen einig. Außerdem
schicke ich Ihnen mit diesem Brief zwei Nummern des
"kürbiskern", der sich vor allem im Bereich der Litera-
tur mit dem beschäftigt, was S‡ie auch beanspruchen.
Die eine Nummer enthält u.a. Dokumente aus der nach-
revolutionären Zeit in der UdSSR
*, nicht nur um einen
historischen Prozeß zu dokumentieren, sondern Denk-
modelle anzudeuten, die dem Wesen der Sache nach
in der Gegenwa‡rt gewisse Parallelitäten aufweisen.
Das andere Heft – das in diesen Tagen erschienene –*
vermittelt Ihnen einen Eindruck über gegenwärtige
Kontroversen. Die Trennung von den beiden Mitheraus-
gebern* war ebenso unerfreulich wie unvermeidlich.
(Am Ran‡de vermerkt: Karsunke hatte in dieser Frage
eine ganze Seite "Spiegel"-Hilfe erhalten)*.
Ich meine jedoch, daß Sie genau wissen sollten,
welche politische Position ich in einigen grund-
sätzlichen Fragen einnehme.
Im übrigen kennen wir uns. Vor etwa fünfzehn Jahren
besuchten Sie zusammen mit einem Bühnenbildner
Ulm an der Donau. Ich war noch in der Schule und
lernte Sie über Manfred Gräter kennen.* Den hatte
ich noch in derselben Nacht,(nach der TV-Sendung)‡ nach langer Zeit,
angerufen: zum Briefschreiben kam ich damals nicht,
aber zum Aufschreiben der Adresse.
Sie in Rom aufzusuchen,‡ kann ich mir aus zeitlichen
und finanziellen Gründen nicht leisten. Ich nehme
jedoch an, daß Sie die Bundesrepublik nicht meiden,
nachdem die herrschenden Kreise S‡ie öffentlich er-
led‡igen wollen. Im Gegenteil: soweit es möglich
ist, sollten wir die herrschende Klasse gmeinxxxxx‡ ge-
meinsam bekämpfen. Das ist sogar notwendig. Nicht
aus Spaß: wir können und müssen die Macht‡ der agres-
sivsten Bourgeoisie in Europa brechen. Dabei spielen
auch die Violinschlüssel auf Notenblättern eine ge-
wisse Rolle.
Mit solidarischen Grüßen
Friedrich Hitzer
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle
Überlieferung in 2 Textzeugen
-
1. Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze
Signatur: Korrespondenz: Hitzer, FriedrichQuellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- helles Briefpapier mit Briefkopf
- 1 Blatt
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 296x210 [mm] (HxB)
- breiter Rand links (5,4 cm), Absätze engzeilig und jeweils durch eine halbe Leerzeile getrennt
- im 3. Absatz, Zeile 4 hinter Strategie in blauem Kugelschreiber über der Zeile eingefügt: "betrifft"
Material
Umfang
Layout
-
2. Textzeuge: München (Deutschland), Stadtbibliothek (D-Mst), Monacensia
Signatur: FH B 363Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- Durchschlag auf etwas kräftigerem hellem Papier, gelocht
- 1 Blatt
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 297x210 [mm] (HxB)
- auch auf dem Durchschlage wurde im 3. Absatz, Zeile 4 hinter Strategie in blauem Kugelschreiber über der Zeile eingefügt: "betrifft"
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Maschinenschrift.
-
2.Handschrift, Hitzer, Friedrich, Kugelschreiber (blau).
Textkonstitution
-
"a""r" ersetzt durch "a"
-
"n""r" ersetzt durch "n"
-
"g""t" ersetzt durch "g"
-
"… Vehemenz man sie Sie fertig"kein Leerzeichen zwischen "sie" und den Anführungszeichen von "fertig".
-
"t"in der Zeile hinzugefügt
-
"… d. h. en t sprechend"das "t" ist mit der Maschine zwischen die Buchstaben eingefügt.
-
"t""i" ersetzt durch "t"
-
"e""a" ersetzt durch "e"
-
"g""e" ersetzt durch "g"
-
"M""m" ersetzt durch "M"
-
"betrifft"über der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Kugelschreiber (blau), Hitzer, Friedrich
-
"S""s" ersetzt durch "S"
-
"a""ä" ersetzt durch "a"
-
"n""d" ersetzt durch "n"
-
"(nach der TV-Sendung)"über der Zeile hinzugefügt, Typoskript
-
","in der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Kugelschreiber (blau), Hitzer, Friedrich
-
"S""s" ersetzt durch "S"
-
"d""i" ersetzt durch "d"
-
"gmein"gelöscht durch Überschreibung
-
"… können und müssen die Macht"Die ersten drei Buchstaben sind überschrieben und der ursprüngliche Text unleserlich.
-
Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (blau), Hitzer, Friedrich
Einzelstellenerläuterung
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"… politische Ent wicklung ausgestrahlt wurde."Hitzer dürfte sich auf die Sendung "Von der Avantgarde zur Revolution. Die neuerliche Wandlung des Komponisten Hans Werner Henze" beziehen, die am 29. Dezember 1968 um 22.35 Uhr im Ersten Programm des Fernsehens gesendet wurde. Es war eine Sendung von Heinz-Josef Herbort vom Hessischen Rundfunk.
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"sie"angepasst zu "Sie".
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"… einem der Interviews der Fernsehsendung"Die Sendung integrierte verschiedene Interviews u. a. aus der Sendung "Titel – Thesen – Temperamente" vom 17. November 1968, in der ein Beitrag mit dem Titel "Saison für Hans Werner Henze" gesendet wurde.
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"… revolutionärer Künstler auf Lenin ."In dem Interview am Ende des Beitrags bekennt sich Henze zur Bedeutung der Musik für die Gesellschaft, wie sie Lenin beschrieben hat, nachdem er zuvor erläutert hat: "Der Begriff Propaganda im Sinne Lenins bedeutet nicht Agitprop, bedeutet nicht – auf jeden Fall – den immediaten künstlerischen Eingriff in die Gesellschaft, sondern bedeutet auf dem höchstmöglichen Niveau, das ein Künstler zu bieten hat, ein ständiges Sichbeteiligen, Mitgehen, Mitvollziehen der gesellschaftlichen Entwicklungen.""
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"… Pestalozza von der Ri nascita"Henze hatte in den Jahren 1964 bis 1966 Kontakt zu dem Chefredakteur der Zeitschrift, Luca Pavolini.
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"… seiner Deutschlandreportage zwei Mal aufsuchte."Pestalloza, der eigentlich in der Zeitschrift nur zu musikalischen Themen schrieb, publizierte 1968 folgende Artikel u. a. zur Studentenbewegung: In Heft 16 (19. April 1968): "Doppo il tentato assasinio di Rudi Dutschke. Ho visto a Berlino la protesta degli studenti e degli operai", S. 5–6; Heft 17 (26. April 1968): "La oppositione 'extraparlamentare' nella Germania Ovest. Perchè ha paura il filisteo tedesco", S. 5–6; Heft 19 (10. Mai 1968): "Classe operaia e opposizione extra-parlamentare a Bonn. Nuovo spazio politico per la sinistra tedesca", S. 21–22.
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"… revolutionären Zeit in der UdSSR"Hierbei handelt es sich um Heft 4 von 1967, das am 1. September 1967 erschien, u. a. mit folgenden Beiträgen: Bernd Jentzsch "Führender Kopf", Protokoll I: Lenin in München, Literarische Manifeste: Vom Symbolismus bis zum Oktober, Friedrich Hitzer "Manifeste, Literatur und der Große Oktober", Reinhard Baumgart "Diese Revolution steht im Museum" und Josef. W. Janker "50 Jahre Oktoberrevolution".
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"… in diesen Tagen erschienene –"Heft 2, 1969.
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"… von den beiden Mitheraus gebern"In diesem Heft sind Christian Geissler und Yaak Karsunke nicht mehr im Herausgeber-Team genannt.
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"… ganze Seite Spiegel -Hilfe erhalten)"Hier dürfte Hitzer den Artikel von Otto Köhler mit dem Titel "Kürbiskernspaltung" meinen; vgl. Otto Köhler, "Kürbiskernspaltung", in: Der Spiegel, Heft 48 (24. 11. 1968).
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"… Sie über Manfred Gräter kennen."Über diesen Aufenthalt Henzes in Ulm ist nichts bekannt.
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"… Mit solidarischen Grüßen Friedrich Hitzer"Am linken Rand unten (90°) ist mit Bleistift notiert "APO" .