Letter from H. W. Henze to P. Sacher, November 7, 1975

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La Leprara
00047 Marino (Roma)

7. november 1975

herrn
dr. Paul Sacher
Schoenenberg-Pratteln
Schweiz

lieber Paul,

zweimal habe ich vergeblich versucht, Dich telefonisch zu er-
reichen. ich wollte dir nur danken für die schöne woche in
Zuerich *, in der ich nicht nur wieder einmal gelegenheit hatte,
mit den angenehmen und guten musikern des Collegium zu arbei-
ten, sondern mich auch etwas erholen konnte von dem überaus
arbeitsreichen sommer. es war sehr schön, Dich nach langer
zeit wiederzusehen und Dich so gelöst und heiter zu finden.
vielleicht hast Du bemerkt, dass auch mit mir veränderungen
vor sich gegangen sind.* es wäre schön, wenn wir uns öfters
sehen könnten, und ich möchte noch einmal die einladung für
weihnachten dieses jahres wiederholen, obwohl ich annehme,
dass Du in solchen dingen genauso bist wie ich und es vorziehst,
in Deinen eigenen wänden zu bleiben. aber trotzdem müsste
man irgendwann sich wirklich für längere zeit sehen.Jan

ich arbeite an einer sonate für Julian Bream und mache auch
versuche in richtung streichquartett.* glücklicherweise bin
ich nicht pressiert.

in der nächsten woche werde ich in Stuttgart die 2. Sinfonie
von Mahler einstudieren und dirigieren (am 16. und 17.11.)
mit dem orchester der staatsoper. in der woche darauf mache
ich in Rom unser Holliger-doppelkonzert, allerdings mit ita-
lienischen solisten und dazu den Heliogabalus, den Du mir ja
auch als möglichkeit für einen teil eines programms eines
Basler konzerts in aussicht gestellt hast – wir waren nüchtern
und sachlich, als wir fanden, dass das stück sehr gut zusammen-
gehen würde mit der Eroica, und so würde ich es auch sehr gern
machen.* den ganzen dezember über bin ich in Marino um zu kom-
ponieren, und im januar beginnt dann eine lange reiserei:* im
januar inszeniere ich Boulevard Solitude in Stuttgart,* im februar
mache ich konzerte mit dem Saarbrückener[sic] rundfunk und gehe
mit diesem orchester nach Australien.* im april und mai bleibe
ich ruhig in Marino (abgesehen von einer aufführung meiner
Voices in London * und der italienischen premiere von König Hirsch
auf dem Maggio Musicale in Florenz)*. im juni beginne ich mit
der inszenierung von We come to the river, dessen premiere am
12. juli im Covent Garden ist. solltest du nicht hinkommen?
am 14.6. dirigiere ich in London zum ersten mal Jephte von Carissi-
mi
mit meiner instrumentierung
. dann geht es nach Marino, wo
– 2 –


La Leprara
00047 Marino (Roma)

herrn dr. Paul Sacher, – seite 2 – 7.1 1.1975

ich eine art privates musikfestival machen möchte und meinen
freunden eigene neue kammermusik vorspielen möchte, das sollte
ungefähr in der zeit zwischen dem 17. und 30. juli sein*. wir
Wann?beide haben ja im nächsten jahr unseren 30. geburtstag zu zele-
brieren, ich tue es auf die eben erwähnte weise und indem ich
mehr arbeite denn je. in der ersten augustwoche gibt es dann
in dem kleinen toskanischen bergstädtchen montepulciano das
1. Juli
26
erste der von mir organisierten musikfeste *, mit werken alter
meister und mit einer hoffentlich unkonformistischen art von
neuer musik. dann geht es mitte august nach Bonn, wo ich Elegie
für junge liebende
inszeniere; die premiere ist am 25. september.
dazwischen liegen die Berliner Festwochen *, wo sieben bis acht
konzerte mit neuen und alten werken von mir gemacht werden* und
auch die deutsche erstaufführung von Wir kommen an den Fluss *.
auch in Bonn wird in der woche vom 20. – 27. ein solches retro-
spektives festival gemacht.* dann wird es etwas ruhiger, ende
oktober
und im november gibt es dann konzerte in Kopenhagen,
London, Edinburgh und meine inszenierung von La Cubana in Wupper-
tal
, premiere ende november. im dezember bin ich entweder frei
oder mache eine Frankreich-tournee mit dem London Sinfonietta
Orchestra
.

so, nun weisst Du, wo ich mich herumtreiben werde. lieber Paul,
es sind noch drei dinge, um die ich Dich fragen möchte:

1. bist du auch meiner meinung, dass Henning Brauel ein unge-
schickter, wenn nicht ungehobelter mensch ist, aber ein hoch-
begabter komponist? ich finde, er hat geradezu eine vulkan-
artige kraft und einen unglaublichen strom von phantasie. Du
hattes mir vor einiger zeit angeboten, ein schlagzeugwerk
zu schreiben – ich nehme an, für Deine Basler perkussionisten
(ich komme jetzt in den nächsten jahren nicht dazu, etwas der-
artiges zu tun, beabsichtige hingegen, im übernächsten jahr
ein abendfüllendes ballett zu schreiben für die wunderbare
Stuttgarter kompanie (ich bin dem Stuttgarter theater ab
dieser saison sehr eng verbunden) und damit dieses ballett
völlig für perkussion und nur für perkussion zu machen.* na-
türlich werden ziemlich viel spieler nötig sein, auch a-
cappella-chöre werde ich hineingeben, und ich hoffe, dass
Edward Bond mir das sujet und die texte für die a-cappella-
chöre liefern wird. bis dahin wird aber noch viel zeit ver-
gehen.) meine frage geht nun dahin, ob Du nicht Henning Brauel
einen solchen auftrag geben könntest, sei es nun für die per-
kussionisten
oder etwas anderes. ich wüsste niemanden, der
heute mehr der förderung und der ermutigung verdient als
dieser komponist, und ich würde mich sehr freuen, wenn Du
meine anregung aufgreifen könntest.*

– 3 –
La Leprara
00047 Marino (Roma)

herrn dr. Paul Sacher, – seite 3 – 7.1 1.1975

2. die London Sinfonietta, die am 9. und 10. september in Berlin
meinen abendfüllenden liederzyklus Voices präsentiert, ar-
beitet daran, anschliessend an Berlin eine tournee durch West-
deutschland
zu machen, die allerdings spätestens am 20.9.
beendet sein muss. ich habe offen gestanden in Zürich ver-
gessen Dich zu fragen, ob es entweder für Basel oder für
Zürich (vielleicht für Hirschi) interessant sein könnte,
diesen zyklus,der überall mit ungewöhnlichem erfolg aufgenommen
worden ist, auch in der Schweiz auf diese weise vorzuführen.
das ensemble (etwa 22 spieler und 2 sänger), unter der leitung
von David Atherton, gehört nicht zu den billigsten kammer-
orchestern, ist aber auch nicht horrend teuer, wie mir scheint.
auf alle fälle gebe ich Dir die adresse: 33 Chomley Gardens,
Aldred Road, London NW 6.* *telephon
london 435 8241
es wäre ja wirklich sehr schön,
wenn auf diese weise eines meiner wichtigsten werke aus den
letzten jahren bekannt würde, noch bevor Wir kommen an den
Fluss
in Zürich präsentiert wird (was wohl 1977 sein soll),
weil damit die Schweizer musikfreunde, die sich für meine
arbeit interessieren, eine brücke haben, von sachen wie dem
2. Violinkonzert und Compases und diesem neuen musiktheater.

3. darf ich Dich um die gefälligkeit bitten, einen brief zu
schreiben, adressiert an die Kantonale Verwaltung, Fremden-
polizei, Zug, aber an mich übersendet, in dem Du zum ausdruck
bringen könntest, dass mein séjour in der Schweiz für das
musikleben des landes wünschenswert wäre etc. etc. möglichst
viele girlanden bitte? und wenn Du so lieb sein würdest,
einige Zürcher und Basler bekannte aus dem musikleben um
ähnliche schreiben zu bitten (die alle an mich zu schicken
wären). ich glaube, wir haben ja andeutungsweise darüber in
Zürich gesprochen.

der brief ist ein bisschen lang ausgefallen, bitte entschuldige –
ich hoffe, dass wir uns bald telefonisch sprechen oder gar per-
sönlich sehen (vielleicht kann ich Euch einmal im januar von
Stuttgart aus besuchen!).

bitte grüsse Maja von mir und nimm selbst die freundlichsten und
herzlichsten grüsse von Deinem alten
hans werner

Editorial

General Remark

Die recht zahlreichen Anstreichungen und Notizen von Paul Sacher in diesem Brief sind in seinem folgenden Brief ausgeführt.

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Elena Minetti; Irmlind Capelle

Tradition in 2 Text Sources

  • 1. Text Source: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
    Shelf mark: Korrespondenz Hans Werner Henze

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • Briefpapier Henze
    • Faltung: 1mal längs, 1mal quer
    • Extent

    • 3 folios
    • 3 written pages
    • Dimensions: 290x209 [mm] (HxW)
    • Condition

    • gelocht. Heftklammerspuren oben links
    • Layout

    • einzeilig, kein Einzug; linker Rand: 2,5 cm; Leerzeile nach Absatz
  • 2. Text Source: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze
    Shelf mark: Korrespondenz Paul Sacher

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • Durchschlagpapier, WZ: “Extra Strong C.M. Fabriano”
    • Extent

    • 4 folios
    • 4 written pages
    • Dimensions: 280x220 [mm] (HxW)
    • Condition

    • gelocht. Heftklammerspuren oben links
    • Layout

Writing styles

Text Constitution

  • "… dass auch mit mir veränderungen"Die zwei letzten Zeilen sind am linken Rand in Bleistift mit einem senkrechten Stift markiert.
  • "Jan"added in the left margin, handwritten, pencil (black), Sacher, Paul
  • "… für längere zeit sehen. Jan"Die letzten beiden Zeilen sind am linken Rand mit einem Bleistiftstrich markiert. Daneben ist notiert: "Jan"
  • "… (am 16. und 17.11. )"Diese Zeile ist links mit einem Pfeil in Bleistift markiert.
  • "… Holliger-doppelkonzert , allerdings mit ita"Diese Zeile ist links mit einem Pfeil in Bleistift markiert.
  • "c""" overwritten with "c", handwritten, felt pen/fineliner (lilac), Henze, Hans Werner
  • "… in Marino um zu kom"Diese Zeile ist links mit einem Pfeil in Bleistift markiert. die vier Zeilen davor sind mit einem senkrechten Bleistiftstrich markiert.
  • "… kom ponieren, und im januar"dieses Wort ist mit Bleistift eingekreist.
  • "Saarbrückener"sic
  • "… im april und mai bleibe"Diese Zeile ist mit einem Doppelstrich in Bleistift markiert.
  • "… juli im Covent Garden ist."Die Worte von Zeilenbeginn sind mit Bleistift eingekreist.
  • "Wann?"added in the left margin, handwritten, pencil (black), Sacher, Paul
  • "1. Juli 26"added in the left margin, handwritten, pencil (black), Sacher, Paul
  • "… ist am 25. september ."Diese Zeile ist vorne mit einem Pfeil markiert.
  • "… 1."Die drei folgenden nummerierten Absätze sind mit der ersten Zeile hängend notiert.
  • "("added inline, handwritten, felt pen/fineliner (lilac), Henze, Hans Werner
  • ")"added inline, handwritten, felt pen/fineliner (lilac), Henze, Hans Werner
  • "… sein könnte, diesen zyklus ,"kein Leerzeichen
  • "*"added inline, handwritten, felt pen/fineliner (lilac), Henze, Hans Werner
  • "*telephon london 435 8241"added in the bottom margin, handwritten, felt pen/fineliner (lilac), Henze, Hans Werner
  • "… etc. möglichst viele girlanden bitte?"Der Punkt ist mit lila Filzstift von Henze zum Fragezeichen ergänzt.
  • Following: handwritten, felt pen/fineliner (lilac), Henze, Hans Werner

Commentary

  • "l"regularized to "1".
  • "… die schöne woche in Zuerich"Hier spricht Henze den Aufenthalt in Zürich zu den Proben und dem Konzert am 17. Oktober 1975 an; vgl. die vorangehenden Brief.
  • "… veränderungen vor sich gegangen sind."Zu dem Konzert in Zürich schreibt Henze in seiner Autobiographie nur: "Konzert in Zürich, in einem Zustand somnambuler Bedrücktheit und Mitleidenschaft.", S. 419; zu Henzes Veränderungen vgl. seine Ausführungen ebda. S. 391ff.
  • "… auch versuche in richtung streichquartett."Da Henze sein 3. Streichquartett erst am 9. April 1976 abschloss, dürfte er hier von Arbeiten zu dieser Komposition sprechen, vielleicht aber auch bereits zum 4. und 5. Streichquartett.
  • "… es auch sehr gern machen."Dieser Plan wurde nicht umgesetzt.
  • "… beginnt dann eine lange reiserei:"Vgl. hierzu die Beschreibung der Reisen, die Henze Anfang des Jahres Sacher mitgeteilt hatte.
  • "… Boulevard Solitude in Stuttgart ,"Die Premiere fand am 12. Februar 1976 statt; vgl. hierzu die Beschreibung in der "Autobiographie", S. 424f.
  • "… diesem orchester nach Australien ."Vgl. hierzu die "Autobiographie", S. 426–429.
  • "… aufführung meiner Voices in London"Diese Aufführung fand am 28. April 1976 in der Queen Elizabeth Hall statt.
  • "… Maggio Musicale in Florenz )"Die Premiere des "König Hirsch" beim Maggio Musicale fand am 15. Mai 1976 statt.
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • "… 17. und 30. juli sein"Dieses "Festival" zu seinem 50. Geburtstag hatte Henze bereits in seinem Brief vom 25. Februar 1975 beschrieben.
  • "… der von mir organisierten musikfeste"Vgl. hierzu die Beschreibung in der Autobiographie, S. 438–451, bes. S. 441.
  • "… dazwischen liegen die Berliner Festwochen"Die Berliner Festwochen fanden 1976 vom 2. September bis 2. Oktober 1976 statt.
  • "… werken von mir gemacht werden"Nach der Anzeige im "Führer durch die Konzertsäle Berlins" Jg. 1976/1977, Heft 1, S. 14, fanden folgende Konzerte statt: Am 8. September spielte Siegfried Palm ein Werk von Henze, am 9. und 10. September spielte die London Sinfonietta unter Leitung von David Atherton ausschließlich Werke von Henze (u. a. "Voices"), am 11. September dirigierte Henze persönlich das Berliner Philharmonische Orchester in einem Konzert mit eigenen Werken ("Tristan", Solist: Homero Francesch, und "Doppio concerto", Solisten: Lothar Koch, Chantal Mathieu), am 12. September führte das Symphonische Orchester Berlin ein Werk von Henze auf, und an demselben Tag spielte das Concord String Quartet u. a. die Uraufführung von Henzes 3. Streichquartett, am 19. September dirigierte Henze erneut das Berliner Philharmonische Orchester ausschließlich mit eigenen Werken und am 20. September brachte Julian Bream die "Royal Winter Music" zur Uraufführung (mit anschließendem Gespräch mit Henze).
  • "… Wir kommen an den Fluss"Die Premiere fand am 18. September 1976 an der Deutschen Oper Berlin statt.
  • "… solches retro spektives festival gemacht."Aus Anlass der "Tage der Neuen Musik" 1976 veröffentlichte Klaus Schultz ein Auswahl von Texten zu den bis dahin komponierten Werken Henzes: "Hans Werner Henze. Eine Auswahl", Bonn 1976.
  • "… nur für perkussion zu machen."Diese Idee hat Henze letztlich nicht umgesetzt.
  • "… Du meine anregung aufgreifen könntest."Diese Anregung scheint Paul Sacher nicht aufgenommen zu haben.
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • "l"regularized to "1".
  • séjour
    • Aufenthalt

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Paul Sacher Stiftung.

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