Letter from H. W. Henze to H. M. Enzensberger, May 16, 1972
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Absolute Chronology
Preceding
- 1972-04-17: to Barnet
- 1972-05-10: from Barnet
Following
- 1972-05-22: to Sacher
- 1972-05-27: from Enzensberger
00047 Marino (Roma)
bin gestern aus manahatta Island
* zurückgekommen, muss Dir viel sagen, es wäre per
telefon leichter aber zu teuer (ich kann nicht mehr, vieles muss und wird sich ändern) alles sieht ganz gut
aus (hatte einen riesenerfolg mit Boulevard Solitude
*, meiner ersten oper, 22 jahre alt, a consoling thought)
(Cimarrón werde ich vielleicht mit privatem geld, u.a. von Belwin Mills, den U.S.
representanten‡ von Schott,
in N.Y.C. machen können, aber nicht mit staatlichem geld, Natascha Ungeheuer schien ganz sicher, nun ist
sie out of question
*) gut [sieht es ] aus was ¡Ay Rachel! betrifft, obwohl es anfangs, als ich NET von innen
sah, ganz schlimm schien. ich gebe Dir facts in stichworten:
es ist eine organisation, die in einem alten bau in 3–4 zimmern haust, mit 2 tippmädchen. Adler, einst
der macher von Toscanini und des NBC orchestras, kämpft um subventionen und hat grund zur annahme, dass
man ihm den hals umdreht. Daher redet er so widersinnig, never commits himself completely, etc. ich
glaube er hofft das‡
“Rachel” falls ein erfolg, seine NET Opera wieder hochbringen möchte.
als ich in NY ankam, sah ich einen dispositionzettel[sic]‡ für Nov.
Dez., die termine der
produktion und
der abfilmung (man inszeniert alle szenen, wie in einem
live-theater, bis sie sitzen, und filmt sie
dann ab, nach einem vorher
ausgearbeiteten kamera-einstellungs-plan) und fand dort den namen
eines
regisseurs* bereits abgedruckt. da ich ihn kenne und weiss dass er ein idiot
ist, wurde ich sofort sauer
und begann zu drohen. Adler, immer flexibel, sagte
dann, das sei ja nur pro forma, der sei gar
nicht engagiert. dann machte ich
vorschläge: Bartoluzz‡cc‡i, Petri. dies alles schien finanziell ausgeschlossen
(und
auch wohl technisch) und es hiess immer wieder, Kirk Browning der alle diese NET
filme macht‡
dreht‡,
sei
glänzend und brauche eigentlich nur einen berater, der die musikalische
interpretation übernimmt. ich
sah 3 der von Adler
(bzw.
Browning)‡ produzierten filme, alle gut, viel besser als BRD produktionen z.
b. – also
Kirk Browning ist fein, aber der als regisseur-berater zu fungierende
mensch, der meiner meinung nach auch
die décors, kostüme, schauspielerei etc.
kontrollieren müsste, wer sollte das sein? ich kam nicht dahinter
und konnte auch
nicht weiter – schliesslich habe ich vorgeschlagen, mich selbst dafür zu nehmen,
auf
00047 Marino (Roma)
der basis meinerkürzlichen‡ regie-erfolge*, und vor allem mit der absicht, keine verweichlichungen durchzulassen. denn dies
ist wohl die tendenz (wäre sie überall) und ich möchte ihr begegnen mit allen mitteln, s. beiliegenden
brief.* Ter-Arutunian ist noch nicht engagiert, er ist so teuer wieder einmal. er kennt das berlin
der 20–30 jahre (hat dort gelebt)‡ und ist der beste mann in New York. mit ihm, der stahlhart und kompromisslos
ist, kann ich, glaube ich, die ganze sache durchboxen. Du musst mir sagen, ob Du Dich auf dieses abenteuer
einlassen magst und ob Du es mir zutraust, etc. etc. ich traue es mir zu, wenn Du mir traust.
ich habe ein dutzend Rachels gehört und gesehen und mich entschieden für eine dame
vom Broadway,
Lee Vernora, sie ist klein, zierlich, ordinär (etwas schnurrbart)
und sieht genauso aus wie Rachel auf
dem Photo * (das ich Dich nochmals bitte, mir
zu schicken) und singt die chansons sehr gut (und komisch)
und sie haben einen fabelhaften Eusebio, Alan Titus, einen schon
berühmten Star (z.b. singt
er die hauptrolle in Bernsteins
“Mass”
kitsch) er hat mir das duett von der immergrünen
zukunft
vorgesungen. Adler lässt fragen, ob er nicht ausser Paco auch noch
Federico machen könnte: ich wäre
dafür, es wären dann alle 3 jungen liebhaber
Rachels von einer person dargestellt. schreibe mir
bitte darüber.
für die alte Rachel denken sie an Pola Negri, was ich grossartig fände, falls sie ja
sagt. sie ist
dieser tage in N.Y., Rouben T.A. versucht, sie zu übbe‡ überreden. she seems to be reluctant.
morgen oder übermorgen beginne ich den ersten gesang der zeugen.
bitte schreibe mir zu all diesen Rachel punkten Deine meinung.
(die szenische uraufführung wird nun wahrscheinlich das Edinburgh festival
im sommer 73‡ machen, in kombination mit dem
old oder young vic, und soll dann im Westend in London
‡
en suite spielen)‡
* * *
etwas sehr schönes ist passiert in New York, am letzten tag. ich hab Dir wohl mal erzählt
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von einem Neger, Arthur Mitchell, das war eine grosse Liebesgeschichte, die grösste und schlimmste meines Lebens,
sie endete vor 8 jahren sehr hässlich und böse.* Jetzt haben wir frieden geschlossen, und es ist, als ob
ein stück vergangenheit in die gegenwart gerettet worden wäre, und mein leben kommt mir weniger
leer vor. ein freund mehr, das ist so viel wert. Wir haben El Cimarrón zusammen gehört und er
hat immerzu ganz genau und richtig reagiert. und viel gelacht‡ Er wird vielleicht ein ballett daraus machen, er ist der
leiter der Harlem Dance Company. das ist alles gut. er würde seine jungens auch als Cimarrones in “Rachel” auftreten lassen.
–‡ und noch etwas (ich bin müde, hoffentlich kannst Du die schrift lesen) und das bitte äusserst vertraulich.
ich werde Schott verlassen, d.h. nichts mehr ihnen anbieten. es langt mir, man hat mich wieder
angeödet wegen meiner roten Z[sic]‡ahlen.* ich habe einen verlag gefunden, Salabert in Paris, der meine
ganzen roten Z[sic]‡ahlen zahlt bei schott und mir für 5 jahre ein monatsfixum gibt, sodass ich schuldenfrei
sein werde und ruhig arbeiten kann zum ersten mal in meinem leben!‡. das grösste dabei ist für mich die bestrafung dieses törichten und selbstsicheren händler‡ mainzer‡ händler.
sie werden so überrascht sein, und sie werden den grössten S[sic]‡kandal haben, den es je im musikverlagswesen‡
gegeben hat. Und Salabert will Rachel von Schott kaufen, evtl. auch noch andere meiner letzten
Sachen (das wird schwer sei‡) – das‡ es von‡ zu “Rachel” noch wenig musik gibt, könnte es vielleicht
gelingen und sollte juristisch möglich sein. Möchte nur gern von Dir jetzt eine nachricht, ob Du ein-
verstanden bist und bereit, ein zweites mal durch die ganze praxis des vertragmachens etc. zu gehen.
Salabert ist ein relativ junger Verlag (50–60 jahre alt) hat Satie, Poulenc, sehr viel U-musik, wodurch‡
woher der reichtum kommt, und ist jetzt enorm en vogue weil die chefin, eine dame von 60 jahren*
wie eine bombe im verlagswesen wirkt und ein schreckenswort geworden ist in den letzten 3 jahren:
Madame Salabert
liebt neue musik und gibt geld aus für ihre autoren!!! voriges jahr hat sie den
ganzen Xenakis bei Boosey & Hawkes aufgekauft (das hätte ich nie getan!) gelegentlich erzähle ich
Dir mündlich davon. ich möchte nur schnell Deinen standpunkt über die
Rachel
sache wissen, damit ich
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handeln kann (möchte Dr. Sieger damit betrauen) in Sachen “Rachel” (sie wollte ja schon immer nach Paris!)*
sonst ist nichts neues zu berichten. ich bleibe jetzt hier bis ende oktober, bis
Rachel
ganz
fertig ist. ab nächster woche werde ich regelmässig daran arbeiten, als wäre es eine oper
(dabei ist es viel schwerer)
Mang, wegen der englischen fassung: bitte pass auf!!!! ich glaube man will verweichlichen,
beschönigen, nicht aus böser absicht sondern aus verdorbenem geschmack. aber Mandel lässt mit
sich reden, ist flexibel. statt ihn zu Dir zu schicken, möchte man Dich nach N.Y.
einladen, damit Du ihnen allen‡ alles sagen kannst und sie kennst und so. ich hielte das auch
für sehr gut. hoffentlich hast Du lust dazu. after all, it is a crazy place. with much
talent in it, and misery. One thing it certainly is not: provincial.
Habe Kirk Browning und Mel Mandel Exemplare der penguin-ausgabe Deiner gedichte* gegeben, dass
sie sich möchten etwas einfühlen.
Mang I must sleep now. please write back soon.
My love to Gastón (I shall soon write to him, too)
Please, write
Love,
abrazos
hans
quien te quiere
Editorial
Responsibilities
- Editor(s)
- Irmlind Capelle
- Transcription
- Irmlind Capelle; Joachim Veit
Tradition
-
Text Source: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
Shelf mark: Briefe Hans Werner HenzePhysical Description
- Document type: Letter
- BP_Henze_06
- WZ: das stempelartige "- PINEDER – FIRENZE · ROMA", Stegabstände ca. 2,6-2,7cm
- Faltung 2mal auf DinLang, zusätzlich unten ca. 0,2 cm nach hinten gefaltet
- 4 folios
- 4 written pages
- Dimensions: 292x216 [mm] (HxW)
- Papier quer beschrieben (fw links); sehr dicht und klein beschrieben; in oberer linker Ecke auf S. 2-4 jeweils von Henze im gleichen Stift "2", "3", "4" jeweils mit / darunter
- Rand links: 2,5 cm, der Briefkopf ist frei
- Absätze: kein Einzug, kein Abstand
- Anführungszeichen: unten oben
Material
Extent
Layout
Writing styles
-
1.Handwriting, Henze, Hans Werner, felt pen/fineliner (black).
Text Constitution
-
"dispositionzettel"sic
-
"zz"deleted by overwriting
-
"cc"added inline
-
"macht"crossed out
-
"dreht"added above
-
"kürzlichen"added above
-
"(hat dort gelebt)"added above
-
"übbe"crossed out
-
"im sommer 73"added above
-
"… in London en suite spielen)"Obowhl hier ein großer Absatz zu Ende ist, wie die nachfolgenden Punkte anzeigen, hat Henze hier keinen Punkt gesetzt.
-
"und viel gelacht"added above
-
"… in Rachel auftreten lassen. –"großer Gedankenstrich links neben dem Text
-
"Z"sic
-
"Z"sic
-
"und ruhig arbeiten … in meinem leben!"added above
-
"händler"crossed out
-
"mainzer"added above
-
"S"sic
-
"… den es je im musikverlagswesen"vor “wesen” stehen Anführungszeichen unten.
-
"s"crossed out
-
"von"crossed out
-
"wodurch"crossed out
-
"allen"added above
-
"für"added above
-
"… festzustellen wo gekürzt werden kann."Dieser Textblock steht links von der Schlußformel und beginnt auf der Höhe von “Love”.
Commentary
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"… bin gestern aus manahatta Island"Henze verwendet hier den ursprünglichen, von den Ureinwohnern (den Algonkins) geprägten Namen Manhattans.
-
"… einen riesenerfolg mit Boulevard Solitude"Am 13. Mai 1972 fand die Premiere von “Boulevard Solitude” in der Manhattan School of Music in New York statt.
-
"representanten"recte "repräsentanten".
-
"… ist sie out of question"Zu diesen Plänen zu Aufführungen von “El Cimarrón” und “Natascha Ungeheuer”in Amerika ist bisher nichts Näheres bekannt.
-
"das"recte "dass".
-
"… dort den namen eines regisseurs"Wer hier genannt war, ist bislang nicht bekannt, am Ende führte Kirk Browning die Bezeichnung Regisseur.
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"… der basis meiner kürzlichen regie-erfolge"Z. B. bei der Aufführung von “Boulevard Solitude” in New York, die Henze zu Beginn des Briefes anspricht.
-
"… allen mitteln, s. beiliegenden brief."Es ist bislang keine Beilage zu diesem Brief bekannt. Ev. war es eine Kopie des Briefes an Adler vom 12. Mai 1972?
-
"… wie Rachel auf dem Photo"Die Hauptfigur von “La Cubana”, Rachel, basiert wie der Cimarrón in “El Cimarrón” auf einer realen Person, weshalb es ein Photo von ihr gibt und ihr Name, Amalia Vorg, bekannt ist. Schon Barnet hatte ihr aber einen anderen Namen, Rachel, gegeben: Er schreibt hierzu in dem Nachwort zur deutschen Ausgabe seiner “novela-testimonio”: “Wichtig ist jedoch, daß nicht Rachel, sondern viele Rachels sich so verhielten.”, vgl. Miguel Barnet, Das Lied der Rachel, Frankfurt: suhrkamp taschenbuch verlag, 1980, S. 131–155, hier S. 137.
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"… jahren sehr hässlich und böse."In seiner Autobiographie macht Henze zu dieser “Affaire” nur Andeutungen, vgl. Autobiographie S. 228 und 231f.
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"… wegen meiner roten Z ahlen."Vgl. hierzu die Autobiographie S. 379–381, bes. S. 380.
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"sei"recte "sein".
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"… eine dame von 60 jahren"Hier irrt Henze: Mica Salabert war zu diesem Zeitpunkt bereits 76 Jahre alt.
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"… schon immer nach Paris !)"Anspielung auf das Leben der Rachel, vgl. das 1. Intermezzo von “La Cubana”.
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"… der penguin -ausgabe Deiner gedichte"1968 war bei penguin books ein Band mit Gedichten Enzensbergers mit dem schlichten Titel “Poems” erschienen, in der eine Auswahl in der Übersetzung von Michael Hamburger zusammengestellt war.
-
abrazos
- Umarmungen
-
quien te quiere
- der dich liebt