Letter from H. W. Henze to G. Weil/W. Jockisch, February 3, 1950

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bl. w 15
fasanenstr. 68*
d. 3. II. 50

liebe gretel!
lieber butzi!

wir ziehen dann aber zusammen, gelt? kommt’s sobald wie
möglich. mein häschen kommt auch, er wird nachfolger von
van dyk, der gekündigt hat. häschen wird mit reinholm im
“hamlet” alternieren. grete hat mir sehr gefehlt, hatte sehr
viel innenleben nach außen zu kehren und es war recht
arg. das häschen hatte nach chile abgeschlossen und solche
spässe sich erlaubt. nun hat er es zurückgezogen und geht
zu tatjana. helft mir, daß er artig bleibt. reinholm sagt,
hier hielte auch die beste ehe nicht. wir erwarten ihn
baldigst, nur habe ich noch kein geld aufgetrieben, womit
er meine schulden und seine reise bezahlt. hier allein zu sein,
ist sehr schwer, und man kann leicht in melancholie verfallen.
tietjen war sehr eingeschnappt, daß ich im interview gegen die
neumannsche-inszenierung gesprochen habe*, entließ mich aber doch
mit den worten, er hoffe, die nächste urauff. gehöre ihm. also,
wir ziehen zusammen und machen manon. hat das häschen
den prevost * geschickt? über die ambitionen von völker konnten bis-
her weder tatjana noch ich was rauskriegen. bei kelch war ich
vor 8 tagen eingeladen, es waren dumme opernputen da, ich konnte
nichts rauskriegen, versuche aber immer weiter. was ist denn mit
felsenstein? tietjen ist ein widerling. – ich habe einen kompositions-
auftrag vom Rias *, kriege nächster tage auch vorschuß, den ich
sofort an häschen schicken werde. hoffentlich wird das leben jetzt
wieder schöner und sauberer. lieber butzi, das östliche, z.b. die
brecht-leute*, sind mir entsetzlich. ich war bei dessau, er war
klug und frisch, aber bei ihm hängt neben picasso ein aus der
zeitung geschnittenes photo von wladimir ilitsch und neben
schönbergs survivor-partitur dessaus liederzyklus “wenn stalin
durch den rosengarten geht”
.*

auch hier im westsektor behält man durchaus die besinnung, aber
für einen künstler ist die luft von gefährdung, die er braucht,
sein nerven-motor, ganz anders. wenn man sich dem prozess
der differenzierung, in dem die moderne kunst steht, entziehen
will, begibt man sich der schönsten und wahrhaften soziologischen


funktion, die wir künstler haben. vielleicht verstehen wir uns
gar nicht, aber es könnte doch sein, daß es uns gelingt,
der wracken oper eine injektion zu geben. es wäre
außer wozzek und cardillac der erste fall seit 50 jahren.
sicher wirds ein ballett und keine oper, wo ich ja
doch schon nur noch in arabesquen, pironettes fontés
und rondes des jambes denke.

kommt’s bald.

seid innigst, innigst ...

nachmittags um 18 ist immer meine schwerste stunde, es
kommen peter, köckermann u. a. m. zur meisterklasse, und
nachher baden sie nebenan. ich halte mich erschreckt und
herzkrank in meinem zimmer zurück, seit tagen schon
wohne ich auch dem exercise nicht mehr bei. entsetzliche
angst, daß man andere als sachliche motive ...

tatjanuschka geht im sommer nach buenos aires, um dort
die wintersaison hindurch zu arbeiten.* ich fand “dornröschen”
sehr schön, anderes habe ich noch nicht gesehen. “abraxas”
ist nicht sehr erhebend.*

mein gott, das leben ist eine schwere kiste! wie ungleich viel
bequemer doch ist die kleine resignierte gebärde, mit der
man den gashahn öffnet. – doch schon allein, ein neuer
schal für eins neunzig im winter-schlußverkauf und
frisch rasiert mit geregeltem stuhlgang, läßt es sich leichter
18 uhr werden. ich habe übrigens in diesen nachmittagen
fast ganz das finale der 3. sinfonie beendet. zu
schweren seufzen[sic] aller möglich instrumenten[sic] bläst eine
trompete zu wiederholten malen dieses folgende signal
[Sample Notation: NB zwei Takte Violinschlüssel vgl. 3. Sinfonie, 3. Satz T. 149f. und 152f.]

mit welchem ich mich
Eurer liebe empfehle
hänschen

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Shelf mark: GW 31

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • helles, dickeres Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Extent

    • 1 folio
    • 2 written pages
    • Dimensions: 297x0210 [mm] (HxW)
    • Condition

    • an beiden Rändern Kaffeespuren (?)
    • Layout

    • kein Einzug, Rand: 3cm
    • Anführungszeichen unten oben

Writing styles

Text Constitution

  • "… bl. w 15"Die Ortsangabe ist gegenüber den folgenden Zeilen um ca. 1 cm nach links ausgerückt.
  • "… gretel ! lieber butzi !"Henze setzte nur ein großes Ausrufezeichen hinter beide Zeilen.
  • "seufzen"sic
  • "instrumenten"sic
  • "… mich Eurer liebe empfehle hänschen"Die erste Zeile der Grußformel steht neben dem Notenbeispiel.

Commentary

  • "… bl. w 15 fasanenstr. 68"Henze wohnte in dieser ersten Zeit in Berlin bei Tatjana Gsovsky; vgl. Autobiographie S. 106.
  • "… die neumannsche -inszenierung gesprochen habe"In der Zeitung “Der Abend” wird in der Ausgabe vom 23. Januar 1950 einerseits die Aufführung von “en” schlecht besprochen: “Als Knochenbeilage dann ein etwas prätentiös als ‘Oper in zwei Bildern für Schauspieler’ bezeichnetes ‘Wundertheater’. Das lustige und deshalb oft variierte Thema geht auf Cervantes zurück. Der junge Hans-Werner Henze schrieb eine modernistische Musik dazu. Die reichlichen Dissonazen ermüdeten und konnten nicht einmal zur Akzentuierung des gesprochenen Wortes genügen. Die Aufnahme war ziemlich kühl.”, aber auf derselben Seite wurde noch ein Kurzprotrait Henzes unter dem Titel “Sein nächstes Reiseziel: Paris. Gestern saß Hans-Werner Henze in der Städtischen Oper” von “Kr.” veröffentlicht, in dem es heißt: “Die Berliner Inszenierung hält Henze für verfehlt. Seine Musik sei ‘gefühlsmäßig überdreht und verästelt’ .. Sie brauche eine Cocteausche Regie. ‘Die Oper hätte verhalten und lyrisch gegeben werden müssen.’ Der Bericht endet mit der Feststellung: “Henze ist unverzagt. Inzwischen hat er seine dritte Symphonie beendet, die im Sommer das Symphonieorchester des Südwestfunks in Baden-Baden und in Paris spielen wird. Außerdem arbeitet er noch an einer Oper.”
  • "… hat das häschen den prevost"Henze meint hier Prevosts Roman “Manon Lescaut” , der die Vorlage zu der Oper “Boulevard Solitude” bildet, deren Erarbeitung er gemeinsam mit Grete Weil in dieser Zeit beginnt, vgl. die folgenden Briefe.
  • "… einen kompositions auftrag vom Rias"Hierbei handelt es sich um das handlungslose Ballett “Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber” .
  • "… östliche, z.b. die brecht -leute"Hier meint Henze sehr wahrscheinlich die Mitglieder des Berliner Ensembles.
  • "… durch den rosengarten geht ."Henzes Sicht auf “das östliche” hat sich sehr bald gewandelt und gerade zu Paul Desssau hatte er lebenslang ein freunschaftliches Verhältnis; vgl. auch die Autobiographie S. 109.
  • "u. a. m."abbreviation of "und andere mehr".
  • "… die wintersaison hindurch zu arbeiten."Vgl. hierzu den Brief vom 19. Februar 1950.
  • "… abraxas ist nicht sehr erhebend." “Abraxas” hatte am 8. Oktober 1949 an der Städtischen Bühne in Berlin Premiere. Vgl. zu dem skandalumwitterten Ballett von Werner Egk den Beitrag von Ulrike Natzer und Bernhard von Zech-Kleber im Historischen Lexikon Bayerns. Bei der Uraufführung in München hatte Marcel Luipart den Faust getanzt.

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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