Letter from H. W. Henze to W. Jockisch, February 19, 1950

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Liebes jockele,

vielen dank für Deine beiden briefe. ich
hatte so viel lauferei, daß ich nicht dazu
kam, sie eher zu beantworten. mir geht
es gar nicht gut, aber es war schon schlimmer,
vor allem mit geld ist es sehr schlecht
bestellt bei mir. ich überlege dauernd, was
ich tun soll und ob ich nicht vielleicht
gar wieder fortgehen soll von berlin. ich
schreibe ein ballett für tatjana *. sie geht nun
doch nicht nach buenos. grund: zu wenig
honorar, ich glaube aber, sie will nicht
wegen menschlich-allzumenschlichem. sie macht
die verhandlungen durch einen hiesigen agenten,
ich hab ihr aber auf alle fälle gesagt,
daß sie Dich empfehlen soll. sie ist ein
gar excentrisch[sic] weib und sieht die dinge jeden
tag wieder anders. wann kommt Ihr? ich
dächte mir, als Euer untermieter werde ich
mich ein bißchen daheim fühlen und “es”
aushalten. laßt mich aber baldigst wissen,
ob das möglich ist. berlin ist eine sehr
unbarmherzige stadt. – wohnungen, möbliert und
unmöbliert, gibt es en masse, auch unter der


2/
hand, und in einer stunde könnt Ihr eine
beziehen, sozusagen. kein problem. aber bittet[sic]
kommt bald. ich bin ziemlich verzweifelt
und unschlüssig. von Euch verspreche ich mir
etwas halt und so eine art familiärer
bindung, wenn Ihr wollt. ich sehe dessau
und die ruge* öfter, sehr nett, aber doch
nicht mein fall. und man ist irgendwie
sehr allein mit seinen problemen. heinzchen ist
jetzt 8 tage hier und arbeitet tüchtig, für
ihn ist es sehr schön, er wohnt bei
tatjana, infolgedessen mußte ich ausziehen
und weiß jetzt gar nicht, wo es lang
geht, zumal ich kein geld habe. wohne
jetzt für ein paar tage in lichterfelde
bei einem musikstudenten.

wann dachtet Ihr die ankunftszeit? ich
hole Euch ab vom bahnhof zoo. wenn
ihr wollt, miete ich Euch schon eine
wohnung, ihr müßt mir sagen, wo, wie-
viel zimmer, leer oder möbliert, wieviel
miete.

vielleicht gehe ich doch für ganz nach
göttingen, ich habe dort wenigstens eine
feste geldliche basis, und vielleicht wird


3/
es mit der ballettarbeit doch noch!*
ach, es ist schon ein schweres leben!
und dann wollen wir ja auch zusammen
die opera machen. ich bin so schwach
und traurig und müde. Ihr müßt mir
ein bißchen helfen.

herzlichst
Euer
hänschen

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Shelf mark: GW 31

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • helles Papier
    • Faltung 1mal auf DinA6
    • Extent

    • 3 folios
    • 3 written pages
    • Dimensions: 210x147 [mm] (HxW)
    • Layout

    • Rand: 1,5 cm, Absätze nicht eingerückt.
    • Anführungszeichen unten oben
    • Die Seitenzahlen sind auf den Rand rausgerückt.

Writing styles

Text Constitution

  • "e""a" overwritten with "e"
  • "excentrisch"sic
  • "bittet"sic

Commentary

  • "… schreibe ein ballett für tatjana"Vielleicht handelt es sich hier bereits um einen ersten Hinweis auf das Ballett Der Idiot.
  • en masse
    • massenweise
  • "… sehe dessau und die ruge"Ev. meint Henze hier bereits Antje Ruge, mit der Dessau von 1952–1954 verheiratet war; zum Verhältnis zu den beiden vgl. die folgenden Briefe.
  • "… mit der ballettarbeit doch noch!"In Göttingen wurde ab 1950 Heinz Hilpert Intendant, der für eine Saison auch noch eine Ballettgruppe und ein Orchester halten konnte, doch wurde das Ballett anschließend aufgelöst und das Haus als reines Schauspielhaus weitergeführt. Henze hatte schon Ende 1949 geäußert, dass er vielleicht mit Hilpert mitgehen würde.

        XML

        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

        If you've spotted some error or inaccuracy please do not hesitate to inform us via henze-digital [@] zenmem.de.