Letter from H. W. Henze to W. Jockisch/G. Weil, April 1, 1951

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mein lieber butzerich
meine urkomische butza

die premiére[sic] von smetana wird inzwischen nähergerückt, wenn
nicht verstrichen sein,* und zu beiden möglichkeiten möchten
meine zarten sentiments nicht versäumen, sich zu gratulations-
artigen capricen einzufinden. die ereignisse sind manchmal
ihrer fassbarkeit voraus. mit den pyrenäen wurde es nichts,
wegen organisatorischer hindernisse. nun sitzt man in der grossen
stadt, in paris [Sample Notation: [NB ohne Notenlinien]] und tut dies und das.
es mag späteren intimen stunden überlassen sein, detaillierte be-
schreibungen zu geben. das herz ist wieder im zwielicht der
gefühle. das vielleicht zarteste und zauberhafteste von allem bisherigen
widerfährt Eurem freunde in diesen tagen, und doch stellt es ihn
der umwelt wie einen unmenschen hin. das hotel ist klein und
primitiv und riecht nach katze. neulich sah ich eine hochschwangere
auf einen sockel springen, die erde bebte. ein teich im
parc morceau und einige statuen im hof des palais royal – man
sitzt auf gartenstühlen, ambulanten ruhestätten – sind schauplatz von
merkwürdigen situationen gewesen: den abendstern nennt man hier
etoile de berger *. in der ersten etage von café flore sitze ich
nachmittage lang und arbeite am 6. bild, dem jetzt nur noch
die schlusstretta fehlt, die mir aber soeben eingefallen ist. den
schluss des 7. bildes werde ich ganz ändern, statt des religieusen
missverständlichen gesanges werden die kinder singen “jubilate”, und
andere chöre werden eingeschaltet mit irgendwelchen rufen, wie man
es auf den strassen hört. das mikrophon, das schon im 5. bild
hinzugezogen werden musste, wird auch hier nicht ausbleiben. der ganze
schluss der oper wird meine letzte höchstleistung sein müssen. ich
bin sehr angeregt von der musique concréte[sic], einer richtung, die sich
hier langsam bahn bricht und der ich mich evtl. ganz anschliesse.*
nachher: so schnell nicht wieder eine oper! wann werde ich einmal
ruhe finden? ich habe den vertrag, einem vorschuss zu liebe,
bei schott schon unterschrieben. mit butza muss ich noch abmachen,
wieviel % sie von den meinen abhaben will, so ist es sitte.
verlag zahlt mir 75%, wovon ich einen teil dem librettisten
abgeben muss. die abmachung mit dem librettisten teile ich dem
verlag mit, dieser schickt dann automatisch dem librettisten seinen anteil.
ich bekomme erst geld, wenn die unkosten gedeckt sind, die mit der
materialherstellung zusammenhängen, das liess sich nicht anders machen
wegen meiner sonstigen defizits. erreicht habe ich nur, dass die
einnahmen aus meiner oper nicht auf die defizits meiner konzert-
werke verrechnet werden, und dass butza ihre prozente sofort und
vorbehaltlos erhält, und zwar 20% von meinem, sodass ich 55% und
sie den rest hat. ist Dir das recht, meine geliebte?* der text des


6. bildes ist von unbeschreiblicher blödheit, ich hoffe, eine adäquate
musik geschaffen zu haben. habt Ihr nachrichten aus hamburg? das
wundertheater kommt auch in köln, ebenfalls im april *. ohne scherz denke
ich an die 4 wochen vom 15. juli bis 15. august, das sind meine
sommerferien. wenn es ginge, dass ich in dieser zeit ohne störungen und
ohne spannungen mit dem etoile de berger, der anschliessend mit ziemlicher
wahrscheinlichkeit dann in wiesbaden meiner truppe angehören wird, in
Euren mauern am tegernsee und in segelbooten auf demselben mein
leben etwas auf poesievolleren touren laufen lassen dürfte, wenn das
anginge, wäre etwas schönes und wichtiges in die wege geleitet.

paris, so höre ich immer wieder, ist der ort, wo man sich entzweit,
wenn man es mit lands- oder liebesleuten betritt. so ist es jetzt mit
dem repräsentanten der medizinischen fakultät zu würzburg*, ohne dass
ich es so gewollt hätte. er selbst hat es diesmal getan, er trutzt
und ist schwierig und macht es mir leicht, dem abendstern mein
lied zu singen. damals am bahnhof in frankfurt begann meine
spontane ablehnung des s.-verlags, die liebe und so gutherzige
dulle griet war zeuge, und ich war nahe daran, zu Euch, entsetzt
und ängstlich, zurückzufliegen, nur schwerlich gelang es, sich den baju-
warisch-israelitischen armen der geliebten zu entreissen. wie liebte ich
sie im augenblick der trennung! in paris dann setzte sich das fort,
was butza schon geahnt hatte. die fischern brüskierte jean-pierre auf
echt dahlemer art und so dof, dass ich das hotel verliess* und sie
überhaupt nicht mehr sah die ganzen tage. ihre suchaktion ist erfolglos
geblieben, und ein schwefelgeruch blieb über dem quai voltaire schweben.
die freundschaft mit jean-pierre hingegen ist fest und voller liebe. ich
warte sehnsüchtig auf übermorgen, wenn er aus den osterferien zurückkommt.
er ist unsentimental, untuckig, ein starker, mit rotwein und beafsteak auf-
zogener[sic]
, goleoise rauchender, seine cordiroyhosen mit einem strick gürten-
der, alle empfindungen durch kraft und konstruktivität katalysierender, hinreissender
bursche. ich wäre gerne immer mit ihm zusammen. von ihm zu hören,
er liebte mich! ist das schönste kompliment, das ich mir vorstellen kann.
meine unwahrscheinliche vitalität selbst hingegen braucht auch diese andere
seite, den abendstern, dieses in aix en provence der welt geschenkte adagio
cantabile, der in notre dame sich bekreuzigt und sein plié macht, als
sei er vor dem nächtlichen vorhang des palais de chaillot, und der auch
alles andere mit dieser grazie und zartheit tut, die dieses seltsame
manchmal grausame land, dem ich verfallen bin, so reichlich verschenkt.
wirklich bin ich paris verfallen, und auch auf der autofahrt durch
frankreich liess ich thomas harlan zuweilen anhalten und stieg aus, um
die erde oder eine alte stadtmauer zu küssen. eines tages werdet
Ihr dahinter kommen, dass ich so voll von liebe und spannung bin und
so voll von leben, dass es nur die überfülle ist, die mich den
menschen so unbegreiflich macht und die die mediokrität zum kampf
gegen mich aufreizt. ich verdiene viel schönes und reiches, und ich
bin der festen überzeugung, dass ich einer der wenigen menschen bin, die
einen anspruch auf das sonst so zweifelhafte gefühl des mitleids habe[sic].

schreibt mir infolgedessen bald nach wiesbaden, gegen den 8. april werde
ich zurück sein.alles herzliche
Euer hänschen

habe mich sehr mit lifar befreundet, was aber wohl ohne
folgen bleiben wird. bequem sind auch die hock-lokusse
im quartier latin, ein mahnmal hoher menschlicher einsicht.

schott verhandelt mit hamburg, wie ich schon andeutete, aber ich habe gleich gesagt, daß es nur möglich
ist mit dir als regisseur. desgl. habe ich auf das titelblatt setzen lassen, text g.w. musik h.w.h
szenarium: w.j., um Deine geistige anwesenheit in diesem stück zu dokumentieren.
dass das stück
Boulevard solitude
heissen wird, habe ich Euch
schon geschrieben.

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Shelf mark: GW 31

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • helles Papier
    • Faltung: 1x quer und dann noch einmal unten une oben 2,5 cm eingefaltet
    • Extent

    • 1 folio
    • 2 written pages
    • Dimensions: 297x210 [mm] (HxW)
    • Layout

    • Postscriptum 1 auf 1r am linken Rand um 90° gedreht notiert, postscriptum 2 ebenso auf 1v.
    • Rand: 4,5 cm, keine Absätze, keine Einzüge
    • Anführungszeichen unten oben

Writing styles

Text Constitution

  • "… paris 1. aprilen 1951"Die erste Zeile des Datums steht auf einer Höhe mit der zweiten Reihe der Anrede.
  • "premiére"sic
  • "concréte"sic
  • "auf zogener"sic
  • "r""y" replaced with "r"
  • "habe"sic
  • "… "Der Text steht in der unteren Hälfte auf Bl 1r.
  • "… "Der Text beginnt 5cm vom oberen Rand.

Commentary

  • "… nähergerückt, wenn nicht verstrichen sein,"Am 11. April 1951 fand an der Frankfurter Oper die Premiere von Die verkaufte Braut von Bedrich Smetana in der Regie von Walter Jockisch statt.
  • "… man hier etoile de berger"Henze spricht hier erstmals von seinem Lebensgefährten Lucien Murs, den er selten mit seinem Namen erwähnt.
  • "… ich mich evtl. ganz anschliesse."Vgl. hierzu den Bericht in der Autobiographie, S. 122.
  • "… Dir das recht, meine geliebte?"Diese ausführliche Erläuterung ist erstaunlich, da Henze in der Postkarte vom 20. März, die 20% für Grete Weil schon als ausgemacht beschrieben hatte.
  • "… köln , ebenfalls im april"Die Aufführung des “wundertheaters” in Köln hatte am 29. April 1951 Premiere; vgl. die Besprechung in Melos Juni/Juli 1951, S. 199f..
  • "… der medizinischen fakultät zu würzburg"Vgl. zu dieser Beziehung den Brief vom 10. Februar 1951.
  • "… dass ich das hotel verliess"Klaus Geitel schreibt zu dieser Situation: “Beide junge Männer waren zur Teezeit im Hotel Voltaire bei Frau Bermann-Fischer aufgekreuzt, die Verlegersgattin aber hatte ostentativ für die Dreier-Gesellschaft nur zweimal Tee geordert; nicht gerade der zarteste Wink, daß einer zuviel an Bord sei. Das konnte in diesem Fall nur Ponnelle sein, aber Henze erhob sich mit ihm, und beide verließen gemeinsam die offensichtlich ungastliche Stätte.” (Klaus Geitel, Jean-Pierre Ponnelle, in: Max W. Busch, Jean-Pierre Ponnelle 1932–1988, Berlin 2002, S. 86–96, hier S. 90.).
  • cordi r oy
    • Cord

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

        If you've spotted some error or inaccuracy please do not hesitate to inform us via henze-digital [@] zenmem.de.