Letter from H. M. Enzensberger to H. W. Henze, August 1, 1972
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- 1972-06-10: to Henze
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- 1972-08-27: to Henze
- 1972-08-12: from Henze
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eben bin ich zur Post geeilt, um deinen sehr duftenden Brief*
auszulösen. (Eingeschriebene Sachen muß ich fast immer abholen, da zur
frühen Postzeit niemand wach ist, daher lieber gewöhnliche Post – die
raccomandata verzögert alles um zwei bis drei Tage.)
Ich saß in der öden Schalterhalle, weil draußen ein Gewitter niederging,
und
erregte die erboste Verwunderung der dort versammelten verbitterten
Rentner
und Hundezüchter, durch Ausrufe des Entzückens und plötzliche
Ausbrüche von
Gelächter, umso lauter je weiter ich las. Dazu noch die
geradezu
unanständige Sinnlichkeit des Duftes, der mich einhüllte – das
alles ist in
deutschen Postämtern not
done.
Entzückt bin ich nicht nur darüber, daß du Rachel nun beinah vollkommen
zu
ihr selbst verholfen, sondern auch, daß du dich so weit verändert
hast beixxx‡ im Verlauf dieser Tondichtung; oder scheint es
mir bloß so,
als wärst du leichtfüßiger, vergnügter und mit jener Weisheit
begabt,
ohne die wir schlechterdings nicht auskommen werden in absehbarer
Zeit
und die darin besteht, einieg‡ Leute und Sachen einfach nicht
mehr an
uns herankommen zu lassen? Ich denke nicht, daß das mit
Resignation
zu verwechseln wäre. Ein paar Ingredenzien dieser sogenannten
Weisheit –
wir können sie meine‡twegen gern auf einundxxxxxx‡ einen andern Namen
taufen –
sind in meinen Augen: der Entschluß uns unter keinen Umständen in
die
eigene Tasche zu lügen, auch nicht anxx‡ nach
der linken Manier; das Beharren
auf unserm Recht die Sachen zu Ende zu
denken, auch wenns den Genossen
nicht paßt – den andern passen wir ohnehin
nicht; und die geradezu buddha-
hafte Ruhe gegenüber unsern
detractores und r‡ezensenten – die mögen sich
ihre Zeilenhonorare bei der Kasse
abholen, mehr ist dazu wohl kaum zu
sagen. Ich bin immer weniger geneigt mir
meine Vorliebe für Inhalte vor-
werfen zu lassen und die
Vorschriften des Kulturlebens einzuhalten. Je
mehr Leute sich mit unsern
Sachen unterhalten umso besser. Je mehr in dem
was wir machen passiert,
vorkommt, sich regt umso besser. Im Schauhaus
der Avantgarden bringe ich
keine Minute mehr freiwillig zu. Dort, meine
ich, sollten wir auch das
schlechte Gewissen zurücklassen das uns einzureden
man nicht müde wird. Es
kann schon sein daß wir nicht meh‡r zu retten sind –
abe‡r wenn, dann durch Selbstzensur auf keinen Fall, auch nicht
durch
die handelsüblichen Selbsttäuschungen. So denke ich und stelle fest,
daß
mir in dieser Geistesverfassung mehr einfällt als sonst. Wenngleich
ich
zugeben muß, daß ich in der letzten Zeit weit weniger fleißig war als
du
und nicht eben viel vorzuweisen hätte, wenn man mich fragt.
Ich bin von deinem ausführlichen Arbeitsrapport gan-‡ hingerissen. Das ist
alles so gedachtxxxxxxx‡ präzis gedacht und fügt sich so wohl ineinander, daß
ich dein Metier nur bewundern kann. Deine Leichtigkeit ist doch ein
gutes Zeichen, laß dir nur ja nie das Gegenteil einreden!
Alles was im Zirkus-Tableau präzisiert ist, leuchtet vollkommen ein.
Mit der Durchkomposition bin ich sehr einverstanden; sie verhindert auch
unerträgliche Regieeinfälle, Auswalzen der Zirkusnummern usw. Ich freue
mich schon auf den indonesischen Affentanz. Ein treat besonderer Art...
Von den Trommeln und Schlagzeugen sind schon die Namen eine Freude. Warum
das Chanson das Chanson heißt und nicht die ist gar nicht einzusehen.
Es heißt aber seit vielen Jahrzehnten so und wir können es nicht ändern
ohne daß es sich gespreizt anhören würde.
Was nun die der das Chanson am Ende des Tableaux‡ betrifft,
die Aufteilung
ist gut, der Sturzflug auf Weill ist kühn und riskant aber
wenn die Musik
es schafft wieder herunterzukommen (oder vielmehr ux‡ hinauf, kräftig
durchstarten und ab in die
Wolken), so scheint mir das nicht nur möglich
sondern wünschenswert –
schließlich kennen wir den Genossen Weill und
das Publikum kennt ihn auch,
das zuzugeben, einen fernen Gruß und dann
aber Ade Mein Lieber ihm zuzurufen
ist schon sehr gut und souverän. Nur
der Schluß dürfte dann von Kurtchen
aber auch nicht die Spur enthalten,
keine Nuance, sondern müßte sich ganz
anders anhören. Geht das?
Bei Eusebios Liebestod haben wir nun so viel
gestrichen, nämlich zwei
Strophen für beide Stimmen, daß man das offenlassen
kann – man könnte ja
beispielsweise eine von beiden behalten, ad
libitum.
Jetzt noch zum armen Gödel, dessen Kopf man, wenn man Princeton
besucht,
manchmal für einen Augenblick hinter einer Hecke vorbeiziehen
sieht. Er
sieht so aus als höre und sehr er nichts mehr, aber das kann auf
einer
Täuschung beruhen. Über Schotts ärgere ich mich natürlich nicht
wirklich –
das wäre gegen meine Prinzipien, die oben erläutert sind.
I just go through
the
motions, weil man das muß um nicht gefl‡edd‡ert zu werden. Die Änderungen
im englischen Text, die du vorschlägst
sind samt und sonders ausgezei‡chnet*
und stimmen im übrigen groenteils‡ mit denen überein
die ich Herrn Strecker--
Bartlett* meinerseits angegeben habe,
offenbar ohne daß er es für nötig
gehalten hätte sie an dich weiterzugeben.
Vor allem aber muß das Wort exist
wie du natürlich bemerkt hast unter allen
Umständen eingesetzt werden da
sonst der ganze Satz unverständlich und
sinnlos wird. Wirst du die Änderungen
deinerseits in die endgültige
Partutur‡ übertragen? (Auf dich hören sie ja noch
eher als auf
mich.)
Schön wäre es ja sicherlich wenn du dazu kämst ein paar Gedichte zu komponieren* –
hast du Zeit dafür? Du bist ungeheuer produktiv. Das will natürlich, was die‡
Text angeht, wohl überlegt sein, damit die nötige Kohärenz des Ganzen zu
standekommt. Ich sehe es noch nicht ganz. Denken könnte ich mir auch,
daß man einmal den umgekehrten Weg ginge, nämlich ausgehend von einer
kompositorischen, musikalischen Idee einen Text zu machen. Das sollte aller-
dings ein Autor machen der einige Kenntnis in der Technik der Komposition
hat. Warum denn eigentlich muß der Text immer zuerst da sein?
(Wegen Schott und der "Rechte" brauchen wir uns natürlich keine weiteren
Sorgen zu machen; am besten läßt man diese Sachen zwischen Schott und Suhr-
kamp abmachen, und wir reden dann nur über die Sachenx‡ selbst und nicht
über diese juristischen Fortsätze- sollen doch die sich streiten die
an uns verdienen!)
Wenn es mit unserm Tr‡effen im Monat September etwas wird, sollten wir
auch darüber länger konversieren. Die Reise müßte allerdings, da ich
recht bankrott bin, die NET bezahlen.*
Ach ja die NET. Ich habe starke Zw‡eifel daran daß daraus noch etwas wird.
Denn der Herr Adler stellt
sich mit einer Hartnäckigkeit taub die allen-
falls in einem
frühen Stummfilm erlaubt wäre. ich schicke dir eine Kopie
seines‡ letzten Briefchens an mich. Darauf werde ich nicht antworten.
Der
Brief soll uns offenbar auf beliebige Eingriffe der NET in den Text
vor-
bereite‡n (our particular "style" – das kann
ich mir schon vorstellen!).
Wir sollten verlangen, daß das englische Buch
vor Beginn der Produktion
dx‡ hier in Europa durchgesprochen wird. Es muß von uns
genehmigt werden.
Im übrigen hängt diese Forderung auch mit deiner Regie-A‡ufs‡cht zusammen,
die NET offenbar auch nicht akzeptieren will. Ich habe
ziemliche Zweifel,
ob wir mit denen überhaupt zu einem Resultat kommen.
Jetzt geht mir die Luft aus und der Brief endet ein wenig plan.
Die Rede des Theaterdirekto[r]s[sic]‡
kann gekürzt werden, wichtig ist mir nur,
daß der Titel des Stückes genannt wird, und daß klar wird, daß das Alhambra
nicht wie das Tivoli als irgendein Tingeltangel, sondern als Tempel der
wahren Kunst gilt – du verstehst!
Die Gewitter hier sind ganz herrlich. Ich bin hier so isoliert wie du
in
Marino, besonders da Gaston seit Wochen verreist ist. Wo kauft
Fausto
euer Patschouli? Ich finde gar nicht daß dies ein geschmackloses
Parfum
ist. Wann sehen wir uns? Werden wir Zeit und Ruhe haben und nicht
von
Idioten gestört werden? Ahc‡, das wäre angenehm. Wir könnten
uns viele
neue Sachen ausdenken.
Ich danke dir, beneide und umarme dich und wünsche uns und unserer
Patchouli-
Dame Glück
dein m
Editorial
Responsibilities
- Editor(s)
- Irmlind Capelle
- Transcription
- Irmlind Capelle
Tradition
-
Text Source: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
Physical Description
- Document type: Letter
- dickeres helles Briefpapier
- Faltung: 2mal auf DinA6
- 3 folios
- 3 written pages
- Dimensions: 297x210 [mm] (HxW)
- Die jeweils letzte Zeile auf dem ersten und dritten Blatt sind nach unten verrutscht.
Material
Extent
Layout
Writing styles
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1.Typescript.
-
2.Handwriting, Enzensberger, Hans Magnus, ballpoint pen (black).
Text Constitution
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"bei"deleted by overtyping
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"e""t" overtyped with "e"
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"einund"deleted by overtyping
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"an"deleted by overtyping
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"r""R" overtyped with "r"
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"h""r" replaced with "h"
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"e""r" overtyped with "e"
-
"gedacht"deleted by overtyping
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"u"deleted by overtyping
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"l""f" overtyped with "l"
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"d""r" overtyped with "d"
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"ei""ie" overtyped with "ei"
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"n"deleted by overtyping
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"r""-" overtyped with "r"
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"w""e" replaced with "w"
-
"s""a" replaced with "s"
-
"e""n" replaced with "e"
-
"d"deleted by overtyping
-
"A""Q" replaced with "A"
-
"s""i" replaced with "s"
-
"Theaterdirektors"sic
-
Following: handwritten, ballpoint pen (black), Enzensberger, Hans Magnus
Commentary
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"… Berlin den 1. August [1972]"Da der Brief auf Henzes Brief von Ende Juli 1972 reagiert, muss dieser Brief ebenfalls aus dem Jahre 1972 sein.
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Jour du patchouli
- Tag des Patschuli
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"… um deinen sehr duftenden Brief"Henze hatte seinem letzten Brief, wei er erwähnt, Patschuli-Blätter beigelegt.
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raccomandata
- Einschreiben
-
"einieg"recte "einige".
-
detractores
- Kritiker, Verleumder
-
"gan-"recte "ganz".
-
"Tableaux"recte "Tableaus".
-
ad libitum
- zur freien Verwendung
-
"… und sonders ausgez ei chnet"Vgl. die Beilage zum Brief vom 24. Juni 1972.
-
"groenteils"recte "großenteils".
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"… die ich Herrn Strecker- Bartlett"Enzensberger mischt hier zwei Namen aus dem Hause Schott: Ludwig Strecker und Kenneth Walter W. Bartlett.
-
"Partutur"recte "Partitur".
-
"die"recte "den".
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"… bankrott bin, die NET bezahlen."Dieses Treffen fand nicht statt. Enzensberger und Henze trafen sich erst wieder im Oktober 1972 zur Premiere von Gastón Salvatores "Büchners Tod".
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"Ahc"recte "Ach".