Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 19. November 1972

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La Leprara
00047 Marino (Roma)
19. nov. 72
Adorierter Künstler,

bin seit 2 tagen hier, war für 10 tage in
La Martinique und dann in San Juan Puertorico.
so muss Cuba „antes“ gewesen sein (not bad,
I’m here to tell you
) dann in Chicago, um
„Heliogabalus Imperator“ zu hören, sehr brilliant[sic]
und umwerfend und inwiderstehlich. Riesen-Erfolg.*
Ja, 1971, mit 2. violinkonzert und diesem,
war ein gutes jahr. und, in eingedenk Deiner
ständigen ermunterung, glücklich zu sein, bekam ich
am morgen des konzerts einen wunderschönen brief
von Maurizio. alles ist jetzt besser und schöner,
omnia vincet amor. dann nach N.Y. wo ich
vom flugplatz direkt zur produktionsbesprechung
fuhr.* erste positive sache, die entwürfe von
Ter Arutunian sind glänzend und richtig und
brechen nicht aus. man wird Dir photos davon
bringen. es war eine komische atmosphäre, alle
hatten angst (vor mir! stell Dir vor!) wie
schulkinder. (unartig genug sind sie ja auch


La Leprara
00047 Marino (Roma)
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gewesen) aber ich habe jetzt ein gutes gefühl.
für die alte Rachel hat sich auch jemand
gefunden: Ruth Gordon (z.b. war sie die
alte Dame * in „Rosemary’s Baby“ ) ich glaube
das könnte gehen.

und gestern sah ich die übersetzung. Du wirst
sie nächste woche hoffentlich sehen – bitte
komm nach London dafür, es ist für unser
stück ganz wahnsinnig wichtig, zumal in
einigen punkten, bei denen ich nicht durch-
kam, ich gesagt habe: dies muss Enzensberger
entscheiden. Also Du bist letzte instanz und
kannst und musst das machwort sprechen.
z. b. in der frage des Titels. NET möchte
„Rachel’s Song“    (Ay, Rachel, sagen die,
klingt wie „I, Rachel“) Mandel hat sogar
vorgeschlagen „Fresh Flesh“

eine w ein (weniger wichtiges) Argument (meinerseits)
für die beibehaltung von „Ay Rachel“ wäre,
dass der Name schon ein bisschen bekannt ge-
worden ist nun, aber vielleicht ist das nicht so


La Leprara
00047 Marino (Roma)
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wichtig. Bitte entscheide Du – vielleicht
geht sowas wie „Ay, Rachel", oder ... .“ also
und ein zweiter titel (ich meine doppeltitel)

Dann die dialoge. mir scheint, es kommt da
etwas herein was nicht diese erschütternde nüchternheit
des originals nicht hat. etwas zu damenhaftes
damenhaftes, preziöses, unwahres.

in den musiknummern ist das nicht, wahrscheinlich
weil die rhythmen ihn da zu grösserer nähe zum
original gezwungen haben. aber in den dialogen
ist Mandel mehrfach opfer seiner umgebung geworden.
einige dinge haben wir gestern schon geändert, er
ist aufgeschlossen und zu änderungen bereit, aber
den grösseren teil der verbesserungen musst Du
erzwingen.

vielleicht kannst du in den dialogen, die nur
wenig gekürzt worden sind, ein bisschen mehr
kürzen. dann könnte ich nämlich wenigstens
einen vers des völlig gestrichenen wohnwagen--
Terzetts
zurückbringen. es ist ein kampf um
Sekunden, und ein feilschen um sekunden!


La Leprara
00047 Marino (Roma)

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ich schwöre Dir in aller bescheidenheit, wenn ich
nicht hier wäre und nicht in den vergangenen
monaten mich in diese produktion hineingezwängt
und hineingeboxt hätte, die jungens hätten unser
stück völlig unkenntlich gemacht! es ist eine
sehr interessante erfahrung.

u.a. kommen so liberties vor, die oft auch die
völlige verständlis verständnislosigkeit von leuten wie
Browning erhellen, dass stat Rachel, statt in
2 stücke gesägt zu werden, von Paco, dem messer-
werfer, mit messern umworfen werden soll. das
wieder rauszuschmeissen, darum kämpfe ich noch. bitte
insistiere auch Du.

heute arbeite ich den ganzen tag mit Browning,
schreibe Dir abends noch weiteres, falls wichtiges
aufkommt.

nächsten sonntag gibt es hier in N.Y. „Natascha Unge-
heuer“
, leider ist es mir nicht gelungen jemand zu
finden der Gastón einlädt, es wäre so schön gewesen
ihn hier zu haben. hoffentlich sehen wir uns in
Berlin dann wenn unsere stücke in der philharmonie
gemacht werden am 29. nov. –*


La Leprara
00047 Marino (Roma)

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noch was am morgen:
Mandel hat im prolog die aus einer früheren
version stammenden zwischenrufe der zeugen ge-
lassen – später fehlen sie dann. ich finde
sie sind unnötig und machen alles länger. bitte
rede sie ihm aus.

abends.

eine idee ist aufgekommen, die zeugen-
chansons
betreffend. zwischen Tivoli-couplet
und duett von der immergrünen zukunft soll der
Rezensent auftreten (in dem für die zeugen-chansons
vorgesehenen ambiente) und sich was schwarzes ankleben anziehen,
einen weissen bart kleben etc. und gleichzeitig etwas sagen, aber bitte
nicht den quatsch, den Mandel improvisiert hat auf S. 12.
es könnte sozusagen ein pre-chanson der zeugen sein, ganz
kurz, nur mit mundharmonika-begleitung. und bei den späteren
chansons käm träten die zeugen zu ihm, schon gealtert, aber
noch erkennbar ohne den mühseligen umzug in die kapuzen
etc. ich denke das ist ein legitimes T.V. mittel und
besser als unsere theater-umzüge. schreib also bitte ein
kleines liedchen über Rachel etc. das der rezensent singt, ganz
kurz, und ich komponiere es. dies gefällt mir gut.*


La Leprara
00047 Marino (Roma)

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und dann:
nach dem duett von der immergrünen zukunft
möchten wir gern, statt des gesprächs auf
der herrentoilette, eine kurze einblendung
ins zimmer der alten Rachel (wie es in
einer früheren version war)* worin sie erzählt
wie damals alles schief ging mit Eusebio etc.
wie sie gelitten hat an dem konflikt etc.
ich glaube das ist besser, weil im anfang des films
die orte der handlung noch genau definiert, also mit grösserer
häufigkeit noch ins bild gebracht werden müssen.
nur dass es bitte ganz kurz ist.

und wenn Du noch möglichkeiten siehst, in den
anderen intermezzi was zu kürzen, mach es ruhig.
ich habe in fast jeder musiknummer stark gekürzt,
in allen 3 nummern des 1. tableau je ein drittel,
im zirkusmarsch, im inzwischen zurückeroberten wohwagen-duett[sic] drei viertel,
in „illusion“ ein drittel. es ist, glaub ich, für T.V.
ganz gut so. im theater ist es anders, da können
wir alles lassen wie es war (evtl. zuzüglich der auf S. 5
erwähnten sache)


La Leprara
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    nochmal zur übersetzung:
auf S. 28 des englischen texts (merk Dir die seite)
kommt es in der übersetzung zu einer impertinenz
und „freiheit“ die ich Dich zu verbieten bitte:
der besucher (rezensent) bei der alten Rachel
erzählt von dem was draussen vorgeht, dass alle
theater geschlossen sind etc. und dann sagt er:

   Only the most courageous people dare to venture
forth upon the city streets. Revolutions are
really quite a bore.

Rachel: I would not be at all
surprised if this one lasts much longer than the
others. Perhaps even 72 hours
.*

ich habe vor wut gebrüllt, als ich es geleg gelesen
habe. hier kommt der pferdefuss der Ami-
ideologie durch, der in allen leuten hier steckt.
bitte verbiete diese sache (es gibt ein paar ähnliche,
weniger gravierende, aber auch den Sinn Deines
textes verändernde) damit es als veto von Dir kommt.


La Leprara
00047 Marino (Roma)

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dies ist erst der anfang. es wird sicherlich noch
viel mühe und ärger geben. ab es ist auch
sehr lustig, in Manhattan zu sein und hier zu
arbeiten. weil so viel talent da ist und guter
wille (bei den Arbeitenden) und weil es ja doch
eine fabelhafte lebhafte und wahrheitsgetreue stadt
ist mit all ihren lügen und nöten und leiden
und ängsten.

kannst Du meine schrift lesen?

de toute façon, je t’embrasse

   schreibe schnell, meine adresse ist
the manger windsor hotel
    58th and 6th Street,
             New York
              N.Y. 10019

tel. (212) 265-2100
      cable: winsorotel
abrazos hans

Love
to
Janine

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dünnes blaues Briefpapier mit Briefkopf, DinA5; PINEIDER-Papier
    • Faltung: 1x quer
    • Umfang

    • 8 Blätter
    • 8 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 214x151 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Anführungszeichen: standardmäßig oben; linker Rand: 1,2-1,5cm; noormalerweise keine Einrückungen der Absätze
    • ausnahmsweise mal in Briefkopfrichtung beschrieben
    • Das postscriptum steht am rechten Rand über der Signatur von Henze und die Worte sind zentriert über einander geschrieben.

Schreibstile

Textkonstitution

  • "brilliant"sic
  • "in"durchgestrichen
  • "eine w"durchgestrichen
  • "nun"unsichere Lesung
  • """durchgestrichen
  • "und"durchgestrichen
  • "nicht"über der Zeile hinzugefügt
  • "nicht"durchgestrichen
  • "damenhaftes"durchgestrichen
  • "die""das" durchgestrichen und ersetzt mit "die"
  • "verständlis"durchgestrichen
  • "stat"durchgestrichen
  • "das"gelöschter Text nicht lesbar
  • "ankleben"durchgestrichen
  • "gleichzeitig"über der Zeile hinzugefügt
  • "käm"durchgestrichen
  • "der handlung"über der Zeile hinzugefügt
  • "noch"durchgestrichen
  • "fast"über der Zeile hinzugefügt
  • "inzwischen zurückeroberten"über der Zeile hinzugefügt
  • "wohwagen-duett"sic
  • "much"über der Zeile hinzugefügt
  • "… Perhaps even 72 hours ."Die zwei Absätze sind als Block oben und unten deutlich abgesetzt und links etwas eingerückt wie eingerücktes Zitat. Dies wirkt vor allem so, weil der dann folgende Briefabsatz stärker nach links gerückt ist als sonst.
  • "geleg"durchgestrichen
  • "ab"durchgestrichen

Einzelstellenerläuterung

  • antes
    • früher
  • "… und umwerfend und inwiderstehlich. Riesen-Erfolg."Die Uraufführung fand am 16. November 1972 statt, vgl. hierzu die Beschreibung in der Autobiographie S. 376.
  • [Latein] omnia vincet amor
    • die Liebe besiegt alles
  • "… flugplatz direkt zur produktionsbesprechung fuhr."Henze beschreibt hier den Beginn der TV-Produktion von „La Cubana“ ; vgl. hierzu auch seine kurze Beschreibung in der Autobiographie S. 382f. und 386.
  • "… war sie die alte Dame"Henze meint hier die Rolle der Minnie Castevet.
  • "machwort"recte "machtwort".
  • "… am 29. nov . –"Am 29. November 1972 erlebten in der Berliner Philharmonie unter Leitung von Bernhard Klee Henzes 2. Violinkonzert und der Heliogabalus Imperator ihre deutsche Erstaufführung.
  • "… es. dies gefällt mir gut."Diese Idee wurde umgesetzt, vgl. Nr. 2 Chanson des alten Rezensenten (Klavierauszug S. 17–18). Die Regiebemerkung lautet „Beide, Harmonikaspieler und Rezensent, ‚altern‘ zusehends auf dem Weg zum Platz der Zeugen. Dies wird durch Gangart, Requisiten etc. dargestellt.“
  • "… in einer früheren version war)"In der endgültigen Fassung ersetzt die Einblendung in Rachels Zimmer nicht das Gespräch auf der Herrentoilette, sondern ist diesem vorgeschaltet (Klavierauszug S. 36); vgl. hierzu auch den Brief Henzes vom 17. Januar 1973.
  • "… Perhaps even 72 hours ."Der Text lautet auf deutsch: [Rezensent] „Es herrscht ein Durcheinander, liebe Rachel! – unvorstellbar. Denken Sie sich, die Theater sind allesamt geschlossen! Nur die unerschockensten Leute wagen sich auf die Straße.“ [Rachel] „Ach was. Das geht drei Tage so, dann ist alles vorbei.“ (Klavierauszug S. 79).
  • de toute façon, je t'embrasse
    • ganz egal, ich umarme dich
  • abrazos
    • Umarmungen

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        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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