Brief (mit Umschlag) von H. W. Henze an G. Weil/W. Jockisch, 27. November 1950
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[Manuskript]
wiesbaden
parkweg 8 meine lieben,
ich habe einen großen überschuß an liebe im leibe
der sehr empfindlich gelagert, leicht zu verletzen ist,
wenn er, wo immer er ausdruck annimmt, gehöhnt oder
beschmutzt oder auch mit unwahrheiten belastet wird. dieses
ist ein paar mal zwischen uns vorgekommen, erst vor
ganz kurzer zeit habe ich auf umwegen davon gehört.
besonders Du, walter, machst solche sachen, und grete macht
mit oder macht sie nach. ein erstaunliches maß von
unmoral mußte ich plötzlich bei Euch entdecken, die auch
nicht vor mir, Eurem freund, halt macht. so werft mir
also in zukunft nicht mehr herzlosigkeit vor und so etwas,
wenn Ihr es selbst bei Euch tun müßtet.* *ich beanspruche diese tugenden ja nicht
als in mir existent‡ oder nehmt wenigstens rücksicht auf meine empfindlichkeit. und wenn Euch
das unmöglich ist, zieht vernünftige konsequenzen, kümmert Euch
nicht um mich und vergeßt mich. von den wenigen menschen,
mit denen ich befreundet bin, durfte ich wohl verlangen,
daß sie das, was mir teuer und wesentlich, achten, daß sie
nichts tun, was sie mir verheimlichen müßten, und nichts,
was mir weh tut. schließlich tu ich das auch (mit den
menschen, mit denen ich befreundet bin). – der bumerang ist
zurückgeflogen noch bevor ich es gewußt oder definitiv ausgesprochen,
habt Ihr mich verraten, sei es im kleinen, sei es im großen,
es war verrat und beinahe schon das, was man die nicht
zu vergebende sünde wider den heiligen geist nennt.*
das hier auszusprechen, hat mich lange zeit der überwindung
gekostet. ich arbeite aber an mir selbst (im gegensatz zu
anderen menschen) und habe mich gezwungen, es zu schreiben.
so kann ich dann auch mit weniger bes‡ widerstreben an unserer
gemeinsamen in so guter harmonie begonnenen arbeit fortfahren.
ich schreibe diesen brief auch in guter minute, bin eben
vom flügel zum schreibtisch herübergegangen, um Euch die
fertigstellung des 4. bildes, das mich eine ungeheure arbeit
gekostet hat, mitzuteilen. ich bin darüber sehr glücklich.
2/
‡
es ist der bisherige höhepunkt der oper, keinen moment
ohne inspiration und bis zum schluß eine sich mehr
und mehr ins innere verlagernde spannung. ich muß
die rechtfertigung zu dem sujet immer wieder im konflikt
geistig-materiell suchen, ganz außerhalb des artistischen, das
z. b. einen weiten raum annimmt. so werde ich nun
gleich morgen das 5. bild beginnen und dann in einem
zuge die oper zu ende schreiben, was vielleicht noch ein
paar monate in anspruch nehmen wird. der verlag hat
das stück schon angezeigt, damit wäre anzunehmen, daß
streckers mit stillschweigen sich ihrer kritik begeben haben.*
daneben arbeite ich an einem stück
„sinfonische variationen
für 24 solo-instrumente“
das bald fertig ist. mein ballett
„labyrinth“
das in braunschweig auf zeebe’s musikfest
gespielt werden sollte, habe ich zurückgezogen, als ich er-
fuhr, daß bresgen zwei vorträge dort halten sollte und
der meine abgesetzt wurde. ich wollte nicht, daß ein so
neofaschistisch beeinflußtes publikum dann "labyrinth" als
corpus delicti für den verfall und die decadence kommentarlos
vorgesetzt bekäme.*
gestern premiére von
„topsy“
– korty unerträglich und dillettantisch,
das stück gut und ohne jeden futuristischen akzent. die
musik von reutter sehr sauber und gut instrumentiert, ohne
besondere kraft, ohne neue sicht, manchmal das ganze ergreifend
und fesselnd. sonja berichtete hinterher (was uns allen uner-
klärlicherweise entgangen war) daß das publikum reihenweise ge-
schluchzt hätte.
mir selbst geht es gut, ich bin dabei, mir die behausung
wohnlich zu gestalten, was nicht ganz einfach ist. abends kommt
gewöhnlich mein neuer schüler und freund, aus übersee und 19
jahre, alles findet ihn zauberhaft. wir haben uns lieb und
hatten in den 4 wochen unserer bekanntschaft noch nie streit.
ich gebe ihm täglich stunden, die harmonie-aufgaben macht er
tags auf dem flugplatz. ich habe mich sehr befreundet mit
frau berman-fischer in frankfurt, sie ist die schwiegermutter
meines freundes thomas baldner. im dezember machen wir dort ein
hauskonzert mit einigen stücken von mir. sonst keine leute,
hans zehden, jerny und frau fischer (zwei autos also, candy, zigaretten
und café, beziehungen, liebe, inspiration, tiefe freundschaft, friede)*
‡wenn Dein roman fertig ist*, liebes gretchen, schick ihn mir, fischer möchte ihn lesen. loben konnte
ich zwar weder das buch noch Deinen charakter, ich habe es aber so gedreht, daß ich
ohne zu lügen,
Dein‡das interesse hervorrufen konnte.
mit eisiger zurückhaltung
Euer Hans
dienstagabend d. 28. 11.
2300
radio ffm
meine whitman-neufassung
‡
[Umschlag, Manuskript]
Herrn und Frau
Dr. Walter Jockisch
Berlin – Charlottenburg
69
9
Branitzerplatz 7
henze wiesbaden parkweg 8
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle
Überlieferung
-
Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
Signatur: GW 31Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- sehr dünnes helles Papier
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 290x212 [mm] (HxB)
- Da das Papier sehr dünn ist, schlägt die Tinte stark nach hinten durch und sind immer wieder Buchstaben verwischt.
- Rand: 4,5 cm; Absätze kein Einzug
- die Seitenzahl ist auf den Rand herausgerückt.
- Anführungszeichen unten oben
Material
Umfang
Zustand
Layout
Schreibstile
-
1.Handschrift, Henze, Hans Werner, Füller (dunkelblau).
Textkonstitution
-
"*ich beanspruche diese … in mir existent"am linken Rand hinzugefügt, Text im Uhrzeigersinn gedreht (90°)
-
"bes"durchgestrichen
-
"… 2/"Die Seitenzahl ist auf den linken Rand herausgerückt.
-
"… "Von hier an ist der Text auf dem linken Rand notiert.
-
"Dein"durchgestrichen
-
"… 00 radio ffm meine whitman-neufassung"Dieser Absatz steht links neben der Grußformel.
Einzelstellenerläuterung
-
"… wider den heiligen geist nennt."Vgl. hierzu den letzten Absatz des Briefes von Anfang Januar 1951, in dem Henze erläutert, warum er „böse“ auf Weil/Jockischs ist.
-
"… sich ihrer kritik begeben haben."Vgl. hierzu den Brief vom 7. Juli 1950 .
-
[Latein] corpus delicti
- Beweisstück
-
decadence
- Dekadenz
-
"… die decadence kommentarlos vorgesetzt bekäme."Die „Festlichen Tage neuer Kammermusik“ fanden im Dezember 1952 unter der Leitung von Heinz Zeebe zum zweiten Mal statt. Im Bericht in der „Zeit“ vom 14. Dezember 1950 (Nr. 50) schrieb der Autor mit dem Kürzel „gr“: „Der Vortrag eines Komponisten hätte im Rahmen dieser Tage sinnvoll und klärend wirken können. Es erwies sich jedoch, daß Cesar Bresgen (er sprach über ‚Verlust der Mitte‘) nicht die geistige Überlegenheit besaß, um über Grundlagen und Probleme heutiger Musik Wesentliches auszusagen. Das war um so bedauerlicher, als die Gesamtplanung sonst einen unzweifelhaften Sinn für Qualität verriet.“
-
"… liebe, inspiration, tiefe freundschaft, friede)"Vgl. Autobiographie S. 118.
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[Rotation]Abschnitt am linken Rand stehend, Text im Uhrzeigersinn gedreht (90°).
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"… wenn Dein roman fertig ist"Es ist unklar, welches Werk von Grete Weil Henze hier meint.
Automatischer Kommentar
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"jerny"Zuordnung nicht eindeutig.