Brief (mit Umschlag und Beilage) von H. W. Henze an P. Sacher/M. Sacher, 20. Oktober 1967
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- 1967-11-03: von Sacher
[Manuskript]
La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
20 OCT 1967
anbey[sic]‡ die gewünschten
program notes
, wie Jhr sehet, ohne
erneute Aufforderung geschrieben*: an efficient composer, no
doubt. Es tut mir immer sehr leid, dass wir so fern
voneinander leben, möchte Euch gern öfter sehen. Es ist
nun 11 Monde hier‡ her, seit meinem mir unvergesslichen
Besuch auf dem Schönenberg.* Ich hoffe es geht Euch gut,
hoffe, dass alles erfreulich ist für Euch (noch genug Weine
im Keller?) und dass Jhr einen schönen Sommer
hattet. Der meine war nicht das Grösste, war
törichterweise in Amerika, das man einfach sommers nicht
betreten sollte (oder überhaupt nie betreten?) und habe
sehr viel negative Eindrücke, insbesondere über die dortige
Nationalkrankheit, einen latenten Faschismus, gewonnen.* Viel gelernt,
ganz gut gearbeitet: Im Januar-Februar drei kleine
„Moralitäten“ (Schul-Opern etwa, in der Form wie es in
den Jesuitenkollegs üblich war, auch Mozarts
„Apollo et
Hyazinthus“ gehört in die Kategorie.) dann bis vor
einigen Wochen ein irres Klavierkonzert, für Christoph
Eschenbach: es ist 3/4 Stunden lang geworden, completely crazy,
war ungemein dramatisch zu Papier zu bringen: so schlimm
möchte ich es nicht gern noch einmal erleben müssen, das
Komponieren. C’était en séjour dans l’enfer. Jetzt mach
ich ein abendfüllendes Oratorium „das Floss der Medusa“
habe aber viel Zeit dazu, gehe viel spazieren (war in
herrlichen Ferien in Tunesien) und denke mir neue Sachen
aus. Lese viel. Habe oft an Dich gedacht, Maja: war
nicht Hoffmann der Entdecker des LSD?* Weisst Du was
darüber? Alles ist so interessant und aufregend! Glücklicher
Weise.
Von Paul bekomme ich, und auch nur sehr gelegentlich, knall-
harte, knappe, kurzangebundene Kostproben, statt blühender bildreicher
verbindlicher billets doux – Lebenszeichen, nit[sic]‡ mehr. Von Maja
nur Schweigen, Vollenigmatik.
And when will you come to Italy? It is not h‡ot now!
Eben fällt mir ein, die DGG klagt,* das Collegium musicum
verlange Starpreise, wolle in den Bergen oben die Sachen auf-
nehmen, Schulthess gäbe nie Antwort, etc etc. Bin auch gebeten
worden, mich hilfesuchend an Dich zu wenden, lieber Paul, tu das
aber nicht weil ich annehme, dies geht Dich gar nichts an.
Dies also nur, damit Du au courant bist. Warum muss immer
alles so schwierig sein? Damn.
Muss jetzt zum Pentagramm zurück. Adieu adieu !
P.S. Das Absagetelegramm hatte nach Bern
gesollt, wo am 7. Nov. der „junge Lord“
gegeben wird.*
[Umschlag, Manuskript]
Svizzera
Posta aerea
Par Avion
La Leprara
Marino (Roma)
Via del Fontanile
Marino (Roma)
In der Form einer einsätzigen konzertanten Sinfonie angelegt (a Allegro –
b Andante – Fortsetzung
Reprise (Variante) von a – Coda in Gestalt von
einer
Variante von b)
präsentiert dieses Stück die Jdee der „doubles“ – im Sinne
der Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts – in mehrfacher Auffächerung:
Imitationen, Abwandlungen, ornamentenhafte Wiederholungen einzelner Teile.
Die Partien der 18Solo–Streicher sind niemals begleitend, sondern
haben an den Entwicklungen permanent Teil. Das Stück möchte
als Kammermusik gewertet werden und in der Reihe meiner
Arbeiten gesehen werden, in der es vorher Kompositionen gab wie
das 2. Streichquartett, die Kammermusik 1958, Sonata Per
Archi, Antifone, von denen jede einzelne […]
freilich
andere
Lösungen anderer Probleme zum Gegenstand hatte. Allen Werken
gemeinsam ist allerdings ein bestimmtes […] Espressivo, das
im Doppio Concerto darauf gerichtet ist, Lichtwirkungen, Brechungen,
und „campestre“ Atmosphäre zu geben, moderne Faune, Satyrn und Nymphen
auftreten zu lassen, in einer ganz […] die
[…]
lebendige
Welt re-
flektierenden Empfindlichkeit. Und wie alle meine Musik, […]
spielt sich auch diese auf […] die Zukunft ein: auf ein
weniger repressives Morgen, das wild und befreit sein wird,
schöner, offener, ganz verändert.
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Elena Minetti; Irmlind Capelle
Überlieferung
-
Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
Signatur: Korrespondenz Hans Werner HenzeQuellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- Briefpapier Henze, sehr dünn
- Faltung: 2mal quer auf dinlang
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 295x210 [mm] (HxB)
- Rand links: 4 cm; Anrede ca. 1 cm nach rechts ausgerückt
- P.S. auf der ersten Seite am linken Rand
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Handschrift, Henze, Hans Werner, Kugelschreiber (blau).
Textkonstitution
-
"anbey"sic
-
"hier"durchgestrichen
-
"nit"sic
-
"h""" überschrieben mit "h"
Einzelstellenerläuterung
-
"… sehet, ohne erneute Aufforderung geschrieben"Vgl. hierzu den Brief Henzes vom 22. Juni 1967.
-
"… Besuch auf dem Schönenberg ."Henze war Anfang Dezember 1966 Gast von Maja und Paul Sacher auf dem Schönenberg; vgl. den Brief vom 11. Dezember 1966.
-
"… Nationalkrankheit, einen latenten Faschismus, gewonnen."Henze war im Sommer 1967 als „composer in residence“ in Hanover (New Hampshire) und wurde hier erstmals mit Protesten gegen den Vietnam-Krieg konfrontiert; vgl. die Beschreibung in der Autobiographie S. 281f.
-
C'était en séjour dans l'enfer
- Es war ein Aufenthalt in der Hölle.
-
"… Hoffmann der Entdecker des LSD?"Als Erfinder des LSD gilt Albert Hofmann, der es jedoch für die Firma Sandoz entwickelte; vgl. den folgenden Brief Sachers.
-
"… mir ein, die DGG klagt,"Es geht im Folgenden um die Aufnahme u. a. des „Doppelkonzerts“ .
-
au courant
- Auf dem Laufenden
-
Je vous embrasse
- Ich umarme Euch
-
"… der junge Lord gegeben wird."Dieses „P.S.“ steht auf der ersten Seite des Briefes.