Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 11. Oktober 1967

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[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
11 OCT 67

Ja, Sie Lieber, nun sind Sie schon in Amerika *, während ich
mich durch eine neue Partitur * und nachgelieferte Kursbücher *
(bin nun endlich ein Abonnent) durchwühlen muss um was
zu lernen.
Es ist schade, dass Sie so weit fort sind. Es
ist schade, dass wir uns nicht näher kennen. Es ist gut, dass
ich ein Jahr Frist habe, um so viel zu lernen wie nur eben
möglich, damit das nächste Gespräch von meiner Seite her
nicht zu kleinlaut kommt.

Gestern hiess es im italienischen Fernsehen, Che Guevara sei
erschossen worden*, so behaupten die bolivianischen „Autoritäten“
hoffentlich stimmt es nicht – es betrifft mich schon, rührt
mich an, als sei es jemand den ich gut kenne, ich weigere
mich, zu glauben dass sie ihn erwischt haben. Für ein
paar Tage war er ja schon ein Idol für mich. Jetzt
muss ich so viel lernen: alle meine Freunde hier, obwohl
alles andere als bourgeois, sind so friedlich und haben keine
Ahnung von den grossen und schönen Aspekten die in der
Zukunft liegen und für die wir arbeiten können.*

Das gleiche Fernsehen zeigte auch schöne lange Sequenzen der
Demonstrationen in Japan (gegen den Präsidenten Sato, der eine
Reise nach Süd-Vietnam unternahm) tausende von Studenten,
mit Zaunlatten etc. bewaffnet, ungeheurer Lärm, und sehr


La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)

gut gemachte Demonstrations-Züge mit monotonem Trommelschlag.* Es
geht darum, was Sie ja wohl wissen, dass Japan seit Kriegs-
ende eine amerikanische air base hat, von wo aus sie, trotz
der Proteste, direkt nach Nordvietnam fliegen.

Ich hatte schon Angst mein heissgeliebtes Japan * sei, was die Jugend
betrifft, völlig in Lethargie, ohne Initiative, völlig kolonisiert,
völlig marshal-geplant und kastriert. Das Gegenteil scheint der
Fall zu sein.

  Bitte grüssen Sie la belle Russa. Wünsche Ihnen, dass Sie gut
arbeiten dort und sich wohl fühlen, wenn möglich. Wenn ich nach
N.Y. komme (Ende November wohl) sag ich Ihnen Bescheid*,
vielleicht können Sie ja doch einen Greyhound * besteigen, damit
wir uns treffen.

 Morgens lese ich Blindenschrift.

Ich freue mich dass es Sie gibt!
Ihr
hans whenze

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: helles, sehr dünnes Briefpapier mit Briefkopf
    • Faltung: ungleich 3mal quer gefaltet und unten jeweils noch ein Zentimeter umgeschlagen
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 294x213 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • beim 2. Blatt ist unten 1 cm nach hinten geknickt, 1. Blatt
    • Layout

    • Rand: 4 cm
    • Absätze nicht eingerückt, kein Abstand
    • Anführungszeichen unten/oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "… Ihr hans whenze"Die Anfangsbuchstaben von „hans“ und „henze“ mit langem Abstrich.

Einzelstellenerläuterung

  • "… sind Sie schon in Amerika"Enzensberger hatte zum Wintersemester 1967/1968 für ein Studienjahr ein Fellowship am Center for Advanced Studies an der Wesleyan University angenommen.
  • "… mich durch eine neue Partitur"Henze arbeitete zu dieser Zeit an seinem 2. Klavierkonzert.
  • "… neue Partitur und nachgelieferte Kursbücher"Bis zu diesem Zeitpunkt waren 9 Bände der Kursbücher erschienen.
  • "… Che Guevara sei erschossen worden"Che Guevara agierte seit 1966 in Bolivien, wurde am 8. Oktober 1967 vom bolivianischen Militär in einem Gefecht verwundet und festgenommen und am 9. Oktober ohne Gerichtsverhandlung erschossen.
  • bourgeois
    • bürgerlich
  • "… für die wir arbeiten können."Vgl. zu den Zielen der Zukunft Henzes Beschreibung zu Beginn des 8. Kapitels der Autobiographie S. 286ff.
  • "… gemachte Demonstrations-Züge mit monotonem Trommelschlag."Vgl. hierzu: Till Knaudt, „Von Revolution zu Befreiung“, Frankfurt a./M., 2016, S. 88-90.
  • "… schon Angst mein heissgeliebtes Japan"Henze war 1966 mit der Deutschen Oper Berlin zur Japanischen Erstaufführung von Elegie für junge Liebende nach Japan gereist und hatte dabei das Land schätzen gelernt.
  • "… wohl) sag ich Ihnen Bescheid"Ob diese Reise stattgefunden hat, ließ sich bislang nicht ermitteln.
  • "… Sie ja doch einen Greyhound"Eine Windhundrasse; zugleich Name der Überlandbusse in Amerika.

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        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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