Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 6. November 1975

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[Manuskript]

La Leprara
00047 Marino (Roma)
6 Nov 75
Marino

mein adorierter Mang, frühmorgens einen gruss, aber wer weiss
wo Du bist. am 17. oktopus schriebst Du mir*, da war
ich wohl beim Cimarrón in Hamburg (um einen nach-
folger für Stomu einzuarbeiten, Christoph Cescell, einen allemannen)
der den leuten wohl gefallen hat + auf allg. wunsch
öfters wiederholt werden muss. auch das englische team,
das im august unser – wirklich einzig dastehendes – oeuvre
im Round House aufgeführt hat*, ist gut und voller aufregung,
auch es wird herumreisen nun, vorzüglich in Brittannien aber auch
in Beneluxien etc. das Mausoleum – wie könnte es anders sein –
ist natürlich nicht eingetroffen. nächste woche dirigiere ich in Stuttgart
(eine der nervenzertrampelnden Mahler Symphonies)* da werde ich es
in einer buchhandlung erwerben. mitte September habe ich We
come to the River
abgeschlossen und bin dann mit Yoichi
nach Griechenland gegangen zum ausspannen, ausschlafen, erholen.
spazierengehen, schwimmen, ihm alle die schönen toten ruinen
zeigend und die unverschämten Türken die sich griechen zu nennen
erdreisten. war dort sehr müde aber weiterhin schlaflos und
reizbar, almost a nervous breakdown, aber dann im okt. in
Zürich, of all places, da habe ich Mozart dirigiert* und bin
im regen am See spaziert, da habe ich mich etwas erholt.


La Leprara
00047 Marino (Roma)

2
jetzt mach ich skizzen für streichquartett(e)* und für eine
gitarrenmusik (für Julian Bream) und schau in den garten
der voller farben ist, ganz wie sie meine musik hat, und
dahinter ein blässliches azur das mir angenehm ist. trinke
tee und denke dass das was P.P.P. * passiert ist, jedem
von uns (Dir nat. nicht!) auch x mal hätte passieren können,
und dass es oft nur um ein haar nochmal gut gegangen
ist. nur dass dergleichen meist unter die „cronaca nera
fällt und niemanden interessiert. von Pasolini weiss ich nicht
genug, möchte immerhin sagen dass hier leben und werk gleich
mangelhaft mir scheinen aber von enormer kohärenz. ich denke
er hat nie einen effort in seinem leben gemacht, das
glaubte er nicht zu benötigen, und leben und werken[sic] dienten
einander als ausrede. aber er war ein sehr lieber mensch
und voller freundlichkeit, jedenfalls so im umgang.

nun wieder ein wenig musik schreiben. Du weisst dass eigentlich
alles was ich schreibe für Deine ohren bestimmt ist. übrigens
werde ich wohl im grauen Wupperthal[sic] im herbst 76 La Cubana
selbst inszenieren, mal sehen ob das nicht besser wird (schlechter
ist schier unmöglich) als in München.* habe einige ganz gute ideen.
bisher waren meine inszenierungen immer erfolgreich, weil einfach und
logisch und wohl proporzioniert. hoffentlich auch dort dann. ich
eile, und ziehe, schon im davonlaufen, meinen hut!

viele umarmungen, auch an Vittoria hans

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • sehr dünnes, weiß-cremfarbiges durchsichtiges Papier, mit leicht gewellter Struktur
    • Faltung: 2mal auf DinA6 (1x längs, 1x quer)
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 290x210 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Rand: ca. 2,5cm (1) bzw. 3cm (2), letzter Absatz leicht eingerückt (1 Wort); Anführungszeichen als oben interpretiert (stehen fast mittig)

Schreibstile

Textkonstitution

  • "enormer"unsichere Lesung
  • "werken"sic
  • "Wupperthal"sic

Einzelstellenerläuterung

  • "… 17. oktopus schriebst Du mir"Vgl. den vorangehenden Brief.
  • "… im Round House aufgeführt hat"Vgl. A042BCD7.
  • "… der nervenzertrampelnden Mahler Symphonies )"Laut Autobiographie S. 420 dirigierte Henze am 16. und 17. November in der Stuttgarter Liederhalle Mahlers 2. Sinfonie. Wie mehrfach aus den Briefen hervorgeht, mochte Enzensberger Mahlers Sinfonien nicht.
  • "… da habe ich Mozart dirigiert"Vgl. hierzu die Korrespondenz mit Paul Sacher aus dieser Zeit.
  • "… mach ich skizzen für streichquartett(e)"Henze veröffentlichte 1976 die Streichquartette 3 bis 5.
  • "… denke dass das was P.P.P."Pier Paolo Pasolini wurde am 2. November 1975 ermordet.
  • cronaca nera
    • schwarze Chronik
  • "… unmöglich) als in München ."Vgl. hierzu die Anmerkung zu Enzensbergers Brief vom 16. Oktober 1975. Die Premiere fand am 26. November 1976 statt und Henze führte in der Tat selbst Regie, vgl. Theater heute 11/1976, S. 60.

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