Brief von H. W. Henze an P. Sacher, 25. Februar 1975

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[Typoskript]

La Leprara
00047 Marino (Roma)

25. februar 1975

herrn
dr. Paul Sacher
Schönenberg
CH 4133 Pratteln/Bl

lieber Paul,

ich habe mich sehr gefreut, von Dir zu hören. Dein erster
brief, der vom 5. februar, kam am gleichen tag an wie der
zweite vom 12. februar
.

zunächst antwort auf Deine anfrage, ob ich das erste konzert
in der nächsten saison des Collegium Musicum Zürich dirigie-
ren würde: das kann ich ganz gut einrichten. ich hätte gern
etwas länger über das programm nachgedacht, möchte mich auch
mit Dir ein wenig beraten. es würde mir gefallen, einen abend
mit jungen, unbekannten komponisten zu machen, deren stil
von dem der immer langweiliger und stereotyper werdenden ex-
avantgarde sich abhebt und könnte dabei etwa vorschlagen:
eine kammerorchester-sinfonie (solistisches holz und blech,
kleiner streicherapparat, klavier, kleines schlagzeug) von
Luca Lombardi *, ein ähnliches stück (studien) von Fabio Vacchi,** auch ein kurzes werk eines
deutschen: wilfried steinbrenner,
es heisst Imago

ein cellokonzert (nur mit streichern) von Thomas Jahnn[sic] – das
würde gerade 60 minuten ausmachen, alle 3 komponisten sind so
um die 30. es wäre etwas ganz neues und ungewöhnliches. ich
mache ein ähnliches programm im herbst mit dem London Sinfo-
nietta
in der Queen-Elisabeth-Hall.

das ist natürlich ein, besonders für mich, mühseliges programm,
wenngleich auch wichtig genug, und ich würde die mühe nicht
scheuen.

wenn es Dir aber zu wenig attraktiv vorkommt, weil die kompo-
nisten noch ganz unbekannt sind, können wir uns auch gern etwas
anderes überlegen. oder wir könnten auch das eben erwähnte pro-
gramm abschließen mit einer lustigen geschichte von mir, näm-
lich songs aus meinem vaudeville La Cubana oder ein Leben für
die Kunst
(das am 28.5.75 in München mit hoffentlich großem
erfolg uraufgeführt wird).*
– 2 –


La Leprara
00047 Marino (Roma)

herrn dr. Paul Sacher, – seite 2 – 25.2.75

sonst könnten wir auch etwas ganz anderes machen, z.b. einen
abend nur mit musik von mir, im ersten teil das Doppelkonzert CMZ?
für Oboe und Harfe
mit den Holligers, und im zweiten teil eine
grössere auswahl aus der eben erwähnten Cubana. in beiden
fällen von Cubana müßten wir die am Münchner Gärtnertheater
engagierte, fabelhafte Tamara Lund als solistin hinzuziehen
und noch einen tenor. eine dritte möglichkeit wäre auch,
den abend zu mischen und ihn beispielsweise mit einer der bei-
den großen Bachschen orchestersuiten zu beginnen* und im zwei-
ten teil mein Doppelkonzert zu spielen. und schließlich noch
eine vierte möglichkeit: einen ganzen Bachabend, wobei ich mich
am meisten freuen würde, wenn ich im ersten teil eine der bei-
den großen suiten und im zweiten teil eine der schönsten kan-
taten machen dürfte. bitte such Dir aus, was Dir von die-
sen vier vorschlägen am besten gefällt. mir ist alles recht, solan-
ge Du mir plus sekretär eine angenehme woche im Baur au Lac
bescherst, mir genug proben und ein gutes honorar gibst und
selbst mit Maja zum Konzert kommst.

nun zu Deinem Vorschlag für ein schlagzeugstück. ich denke,
daß von den drei möglichkeiten, die Du erwähnst, die erste wohl
die brauchbarste sein wird, da es in dem genre ja eigentlich
kaum literatur gibt. schicke mir also bitte die liste der in-
strumente. ich muß Dir allerdings sagen, dass ich vor 1977 wohl
kaum dazu kommen werde, das stück zu schreiben. ich hoffe, bis
mitte dieses jahres meine oper für Convent Garden beenden zu
können und möchte den rest von 1975 damit verbringen, einen
zyklus von kammermusik zu schreiben: drei streichquartette,
ein bläserquintett, eine gitarrensonate, eine solosonate für
geige
* – während das ganze jahr 76 mit unternehmungen ausgefüllt
sein wird:*

im januar inszeniere ich Boulevard Solitude in Stuttgart *. im
februar dirigiere ich Elegie für junge Liebende in Washington *.
im märz dirigiere ich ein Henze-festival in Adelaide (bei dem
auch Brenton als solist im 2. Violinkonzert mitwirken soll)*.
im mai beginnen in London die proben zu meiner inszenierung
dieser neuen oper mit dem titel the river. uraufführung am
15.7. in Covent Garden*. ende juli in Marino eine private auf-
führung, ohne presse, nur für freunde, der vorhin erwähnten
kammermusikwerke – dies ist die feier meines 50. geburtstages,
zu der ich Euch hiermit einlade. es handelt sich um die letzte
juliwoche. im august ist ruhe (da könnte ich ja das schlagzeug-
stück
für Dich schreiben), außer dass ich ein promenaden-

– 3 –
La Leprara
00047 Marino (Roma)

herrn dr. Paul Sacher, – seite 3 – 25.2.75

konzert in London dirigieren werde mit Das Floss der Medusa *.
6. bis etwa 15. september sechs konzerte mit musik von mir
(zwei philharmonische und vier kammerkonzerte), also eine
große retrospektive, auch die deutsche erstaufführung von
the river in der oper, all das in West-Berlin, daran an-
schließend ein ähnliches festival in Bonn, dort auch mit aus-
stellung und filmen*, dann noch ein ähnliches in Stuttgart.
dergleichen pläne sind auch im gange mit London und Edinburgh.
natürlich ist der grund für alle diese manifestationen das
beklagenswerte ereignis meines 50. ...... aus diesem grunde
hatte ich auch gedacht, Dich auf diesen umstand aufmerksam
zu machen und Dich zu fragen, ob Du nicht in Basel vielleicht
beispielsweise die beiden letzten concerti (Compases und das
2. Violinkonzert) wiederholen möchtest, oder die London Sin-
fonietta
einzuladen, einen oder zwei ihrer Henze-abende während
ihrer Europa-tournee auch in Basel und/oder Zürich zu spielen
(einer dieser abende beinhaltet den abendfüllenden liederzyklus
Voices)*. falls dich letzteres interessiert,müßtest Du Dich am
besten an die deutsche konzertagentur Ulrich Schmidt in Hannover
wenden, die sich um die organisation dieser tournee kümmert.
sollte es Dich außerdem interessieren, einen abend mit den drei
quartetten
zu machen, würde ich Dich bitten, es einstweilen
nur mir zu sagen, weil ich noch dabei bin, einen manager zu
suchen, der das phänomenale New Yorker Concord Quartett, für
das ich meine drei quartette mache, auf seiner Europa-tournee
mit diesen werken betreuen wird. den rest des jahres verbringe
ich wiederum größtenteils dirigierend, in London, Kopenhagen,
Stuttgart und wer weiß wo sonst noch*. – hoffentlich immer mit
ein paar tagen oder wochen ruhe in Marino. und in den ersten
monaten 1977 gibt es eine Amerika-tournee als dirigent. den
rest von 77 dann möchte ich wieder in aller ruhe hauptsächlich
als komponist in Marino verbringen, diesem Marino, das Du immer
noch nicht kennst, zu Deinem eigenen schaden. also könnte ich
dann auch dieses schlagzeugstück 1977 für Dich machen. vielleicht
ist dies ein guter augenblick, Dich daran zu erinnern, daß ich
Dir einmal vor langen jahren gesagt habe, daß ich mich mit dem
plan eines hochraffinierten, intimen kammeroratoriums schon seit
vielen jahren trage, für das ich aber immer noch keinen rech-
ten anlass habe, und auch keinen auftraggeber. das ist etwas,
das man wirklich einmal ins auge fassen sollte, denn wenn ich
einen termin hätte, also ein ziel, würden sich alle um dieses
projekt kreisenden gedanken auch leichter verwirklichen lassen.
vielleicht wären die oktobertage dieses jahres in Zürich ein
anlass, einmal konkreter darüber zu sprechen.*

– 4 –
La Leprara
00047 Marino (Roma)

herrn dr. Paul Sacher, – seite 4 – 25.2.75

inzwischen viele grüße, alles liebe für Dich und Maja,
Dein
hans werner

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Elena Minetti; Irmlind Capelle

Überlieferung in 2 Textzeugen

  • 1. Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
    Signatur: Korrespondenz Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze, helles leichtes Papier
    • 1mal längs, 1mal quer
    • Umfang

    • 4 Blätter
    • 4 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 290x210 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • gelocht
    • Layout

    • einzeilig, kein Einzug; linker Rand: 2,7 cm; halbe Leerzeile nach Absatz
    • Der Brief enthält viele Korrekturspuren, z. T. Verwischungen, die hier nicht einzeln dokumentiert werden können.
  • 2. Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze
    Signatur: Korrespondenz Paul Sacher

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Durchschlagpapier mit Wasserzeichen: „Extra strong“
    • Umfang

    • 4 Blätter
    • 4 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 280x220 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • gelocht. Oben links Heftklammerspur

Schreibstile

Textkonstitution

  • Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (schwarz), Henze, Hans Werner
  • "* auch ein … es heisst Imago"am unteren Rand hinzugefügt, handschriftlich, Filzstift/Fineliner (schwarz), Henze, Hans Werner
  • Folgend:
  • "Jahnn"sic
  • "CMZ?"am rechten Rand hinzugefügt, handschriftlich, Bleistift (schwarz), Sacher, Paul
  • "Tamara Lund"Unterstreichung, handschriftlich, Bleistift (schwarz), Sacher, Paul
  • "und noch einen tenor"Unterstreichung, handschriftlich, Bleistift (schwarz), Sacher, Paul
  • "… zu schreiben. ich hoffe, bis"Die Zeilen 4–6 dieses Absatzes sind seitlich links mit Bleistift markiert.
  • "… sich um die letzte juliwoche"Neben dieser Zeile sind von Paul Sacher mit Bleistift zwei Striche und links davon "76" notiert.
  • "… . falls dich letzteres interessiert,müßtest"kein Leerzeichen nach dem Komma
  • Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (schwarz), Henze, Hans Werner

Einzelstellenerläuterung

  • "l"angepasst zu "1".
  • "l"angepasst zu "1".
  • "l"angepasst zu "1".
  • "… kleines schlagzeug) von Luca Lombardi"Hierbei könnte es sich um die "Canzone für Kammerorchester" handeln, die Lombardi 1975 komponierte, oder um "Non requiescat, musica in memoria di Hanns Eisler" für Kammerorchester aus dem Jahre 1973.
  • "… hoffentlich großem erfolg uraufgeführt wird)."Die Uraufführung von "La Cubana" war nicht so erfolgreich wie erhofft; vgl. hierzu auch die Briefe an Enzensberger dieser Zeit.
  • "… großen Bachschen orchestersuiten zu beginnen"Hier dürfte Henze die umfangreichen Suiten Nr. 1 BWV 1066 und Nr. 2 BWV 1067 meinen.
  • "l"angepasst zu "1".
  • "l"angepasst zu "1".
  • "… , eine solosonate für geige"Nicht alle dieser Kompositionen hat Henze wirklich 1975 abgeschlossen, aber sie entstanden alle in den Jahren 1975–1977.
  • "… mit unternehmungen ausgefüllt sein wird:"Vgl. hierzu auch die Übersicht der Aktivitäten im Henze-Jahr 1976 im Brief vom 7. November 1975 und die dortigen Kommentare.
  • "… ich Boulevard Solitude in Stuttgart"Die Premiere fand am 12. Februar 1976 statt; vgl. Autobiographie, S. 424.
  • "… für junge Liebende in Washington"Es könnte sein, dass Henze dieses Dirigat in Washington – ev. wegen des Todes seiner Mutter – abgesagt hat. Es wird schon im Brief im Herbst nicht mehr erwähnt.
  • "… im 2. Violinkonzert mitwirken soll)"Zu seinem Aufenthalt in Australien vgl. die Autobiogrpahie, S. 426–429.
  • "l"angepasst zu "1".
  • "… 1 5.7. in Covent Garden"Vgl. hierzu die Autobiographie S. 435–438.
  • "… mit Das Floss der Medusa"Evtl. hat sich auch dieser Plan zerschlagen: Die britische Erstaufführung von "Das Floß der Medusa" wird für den 28. Juli 1977 angezeigt.
  • "l"angepasst zu "1".
  • "… mit aus stellung und filmen"Vgl. hierzu die Kommentare im Brief vom 7. November 1975.
  • "… den abendfüllenden liederzyklus Voices )"Diese Tournee der London Sinfonietta konnte noch nicht im Detail nachverfolgt werden, aber die "Voices" erklangen 1976 im Rahmen der Berliner Festwochen, in Stuttgart, in Kaiserslautern und in Hamburg.
  • "… wer weiß wo sonst noch"Henze erwähnt hier nicht, aber auch in dem Brief vom 7. November 1975, seine Konzerte mit Voicesin Leipzig und Ost-Berlin; vgl. Autobiographie, S. 452f.
  • "l"angepasst zu "1".
  • "… einmal konkreter darüber zu sprechen."Henze spricht hier die Einladung zum Dirigieren in Zürich an, vgl. den Beginn des Briefes.

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