Letter from F. Hitzer to H. W. Henze, August 20, 1971

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[Stempel :] Friedrich Hitzer
8 München 13 [Punkt in Mitte] Elisabethstr. 3
Telefon 0811/37 4653
Lieber Hans Werner, 20. August 1971

aus der Zeitung haben wir erfahren, daß Du
in München warst: wir waren an dem
Wochenende, als Cimarón[sic] die Premiere
hatte*, nicht da. Am Dienstag-Abend schafften
wir es noch, mit den Neumanns und all den
Freunden, die wir noch erreichten.

Aus dem Brief, den wir Dir gleich schreiben
wollten, wurde – bis jetzt – nichts.

Wir fanden das Stück und die Aufführung
großartig. Joachim Kaisers süffisantes und
höhnisches Lob* – unter der Benennung des
Kürbiskern-Gesprächs* – hatte wohl mehr
Menschen angelockt als ferngehalten.* Es gab
großen Beifall. Wichtiger noch: eine Aufmerk-
samkeit und Spannung, die sich von Anfang
an einstellte und steigerte – auch nach der
Pause, was, wie ich meine, bei kleiner Besetzung


und den Mitteln des Kammertheaters in einem
“hohen Kulturhaus” schwierig ist.

Die bürgerliche Presse schreibt, Du seist verärgert
abgereist.* Was auch immer: an diesem Dienstag
gab es genug Menschen, die etwas zum
Associieren mitnehmen konnten.

Diese Arbeit und die der Ensemblemitglieder
demonstrieren einen Reichtum von Menschlich-
keit, den wir brauchen. Und das mit sub-
tilsten künstlerischen und der Sache ange-
messenen politischen Mitteln. Das ist ein
Signal für die Notwendigkeit künstlerischer
Arbeit. Auch der in Bayern lebende Ostpreu-
ßische Junkerästhet
hat das – widerwillig,
provoziert und schmatzend – begriffen und
Dir gleich die Mahnung weitergegeben:
Ihr dürft alles machen – nur nicht mit
den Kommunisten und dem existierenden
Sozialismus.*


2

Wir müßten versuchen, diese – meines Wissens –
auch neue, gelungene Synthese von politischem
Inhalt und formalem Instrumentarium
in unsere Arbeit mit aufzunehmen. Imponierend
die einfache und doch der Artistik nicht
entgegenstehende Aktionsfreiheit der Spieler.
Grandios der Sänger, Sprecher, Held.*

Schade, daß wir uns nicht alle sehen und
miteinander sprechen konnten.

Übrigens sehe ich – um nochmal das Signal
für die Kunst zu benennen – die Hauptsache
darin: ein Sieg für den menschlichen Menschen
gegen das Bild einer brutal-sentimentalen
unmenschlich stilisierten Kreatur des Imperia-
lismus. Du mußt unbedingt weiterarbeiten
– wir könnten uns fordern; – a propos:
daß Du in Italien bist, begreife ich jetzt
nach unserer ersten Reise – quer durch
den nördlichen Teil Umbriens, der Toskana,


EmiliaRomagna. Nach Rom wollten wir
dieses Mal nicht, obwohl wir lange hin und
her planten: die Zeit wäre zu knapp gewesen,
um, sagen wir mal, Rom und Dich zu besu-
chen.

Hast Du vom gen. F. Stützinger ein Manus bekommen?
Er hatte mich gebeten, es an Dich weiterzu-
leiten; ich wollte das nicht: die Arbeit
und die Arbeitsweise überzeugt micht nicht.
Ich weiß nicht, was er will, was er schreibt.
Du wirst die Sache sicherlich richtig beurteilen.

Hast Du von dem Banküberfall in München
gehört?* Ich schicke Dir eine Kopie meines
Artikels in der UZ * (zusammen mit unserer
Dokumentation vom letzten Jahr, als –
so wie in diesem während der Sauren-Gurken-
Zeit der bürgerlichen Presse – eine Hetze gegen
links durch bewußt betriebene Kriminali-
sierung der Politik inscene gesetzt wurde).*


3

Auf der Grundlage meines UZ-Beitrags veran-
staltete unsere Redaktion eine Pressekonferenz.
Sie war gut besucht, die Diskussion mit den
Journalisten lebhaft – doch keine einzige Zeile
über die vielen naheliegenden Fragen.

Diese Tendenzen sind gefährlich. Ihr kennt dies
ja von Italien her. Die Kriminalisierung der
Politik und die demagogische Politisierung
der Kriminaltität war ja schon seit eh und jeh
ein Zeichen für Faschisierungstendenzen.

Ich lege Dir noch die Kopie eines Gesprächs mit
Martin Walser bei*. Er war vom Schriftsteller-
kongreß in Moskau * stark beeindruckt*. Du kannst
Dir vorstellen, daß auch bei ihm Prominenz
wenig nützt, wenn die herrschende Klasse und
ihre Hofhunde merken – hier geht es um kon-
kreten Sozialismus. Ein Grund mehr für
eine Verstärkung unserer Zusammenarbeit*.


Die bürgerlichen Unken haben von einer Krise
geschrieben: ich vermute, daß Dich die Vor-
gänge um Herbert Padilla stark mitgenommen
haben. Es ist schwer zu urteilen. Auch wenn es
einen Brief an Castro gibt, den Hans Magnus
Enzensberger
mit unterzeichnet hat.* In Cuba
sind wohl die enthusiastischen Stimmungen
durch eine unerhört schwierige Lage in Bedrängnis
geraten. Und der praktische Alltag läßt dann
die kleinen Fortschritte beim Aufbau der sozia-
listischen Demokratie nur mehr schwer be-
greifen, manchmal nicht mehr schätzen.

Sei einstweilen herzlich gegrüßt und gib
mal wieder ein Zeichen

Dein Frieder

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • helles, festeres Papier, oben rechts auf der ersten Seite mit Stempel von Friedrich Hitzer
    • Extent

    • 3 folios
    • 6 written pages
    • Dimensions: 298x211 [mm] (HxW)
    • Layout

    • linker Rand: 3cm, Absätze mit etwas Abstand getrennt, kein Einzug
    • Anführungszeichen beide oben, wenn nicht anders vermerkt

Writing styles

Text Constitution

  • "noch"crossed out
  • "der"crossed out
  • "e""t" replaced with "e"
  • "zu"added above
  • "ein Manus"added above
  • "K""R" replaced with "K"
  • "schw""w" replaced with "schw"

Commentary

  • "… als Cimarón die Premiere hatte"Die Premiere des “Cimarrón” im Residenztheater in München fand am 1. August 1971 statt. Es spielten William Pearson, Karlheinz Zöller, Wilhelm Bruck und Stomu Yamash’ta.
  • "… Kaisers süffisantes und höhnisches Lob"Joachim Kaiser veröffentlichte am 3. August 1971 in der Süddeutschen Zeitung eine Rezension mit dem Titel “Schwarzer Wozzeck in Cuba. Hans Werner Henzes ‘Cimarron’ im Münchner Residenztheater” (S. 12). Er schreibt darin: “Henzes “Cimarrón” ist ein glänzend kalkuliertes Stück moderne Musik, eine Solo-Kantate."”
  • "… der Benennung des Kürbiskern -Gesprächs"Das Gespräch aus Heft 3 (1971), vgl. die Anmerkung zum vorangehenden Brief. Joachim Kaiser schreibt: “An den Mißverständnissen, denen Henze gegenwärtig begegnet, ist er nicht unschuldig. So hat beispielsweise der Kürbiskern (Heft 3, 1971) ein Gespräch Henzes mit der Münchner Song-Gruppe abgedruckt, in dem Henze sich als fast ungebrochener Revolutionär zu erkennen gibt.”
  • "… mehr Menschen angelockt als ferngehalten."Nach der Rezension von Joachim Kaiser scheint die erste Aufführung schlecht besucht gewesen zu sein.
  • "… schreibt, Du seist verärgert abgereist."Vgl. hierzu Henzes Bemerkung im folgenden Brief. Kaiser erwähnt dies nicht.
  • "… Kommunisten und dem existierenden Sozialismus."Vgl. hierzu den Schlussabsatz in der Rezension von Joachim Kaiser.
  • "… Grandios der Sänger, Sprecher, Held."Den Vokalpart hatte auch in München William Pearson übernommen.
  • "… dem Banküberfall in München gehört?"Am 4. August 1971 fand in München der erste Bankraub mit Geiseln statt. Täter waren Dimitri Todorov und Hans-Georg Rammelmayr.
  • "… meines Artikels in der UZ"In der Nummer 34 der UZ vom 21. August 1971 erschien auf Seite 4 ein Artikel vopn Friedrich Hitzer mit dem Titel “Wer bestellte die Gangster? Fragen an Sechser, Strauß und Schreiber nach dem Banküberfall”, in dem Hitzer Äußerungen der Presse, aber auch z. B. die offizielle ‘Note’ der Bankräuber in ihrer Sprache analysiert und den Fakten gegenüberstellt.
  • "inscene"recte "in Szene".
  • "… der Politik inscene gesetzt wurde)."Hiermit dürfte Hitzer den Sonderdruck zu Heft 2 (1970) des kürbiskern meinen, der den Titel trägt “Vom Anschlag in Riem zum Anschlag gegen Links”.
  • "… Gesprächs mit Martin Walser bei"Hierbei dürfte es sich um das Gespräch mit Martin Walser aus dem Buch Protokoll zur Person. Autoren über sich und ihr Werk, hg. von Ekkehart Rudolph, München 1971, S. 131–144 handeln. Diese Interviews sind eine Verschriftlichungen von Gesprächen, die im Hörfunkprogramm des Süddeutschen Rundfunks vorher gesendet worden waren. Walser kann deshalb in diesem Gespräch keinen Bezug auf den Schriftstellerkongress in Moskau nehmen, doch spricht er am Ende des Gesprächs von einer “sozialistischen Demokratie”, die es in Deutschland einzuführen gelte.
  • "… vom Schriftsteller kongreß in Moskau"Es handelt sich hierbei um den V. Schriftstellerkongress der UdSSR, der vom 29. Juni bis 2. Juli 1971 in Moskau stattfand.
  • "… kongreß in Moskau stark beeindruckt"Vgl. hierzu Walsers Tagebucheintragungen in: Martin Walser, “Leben und Schreiben. Tagebücher 1963–1973”, Hamburg 2007, S. 465–494 und die “Nachrichten”, die Reaktionen aus der Zeit zusammenfassen, ebda. S. 500.
  • "… für eine Verstärkung unserer Zusammenarbeit"Am 20. und 21. September 1971 notiert Walser in seinem Tagebuch: "München. Frieder Hitzer und Prof. Josef Schleifstein" (Martin Walser, “Leben und Schreiben. Tagebücher 1963–1973”, Hamburg 2007, S. 499.).
  • "… Magnus Enzensberger mit unterzeichnet hat."Vgl. hierzu den Briefwechsel Henzes mit Enzensberger und die dortigen Kommentare sowie den Antwortbrief von Henze.

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Rechtsnachfolge Friedrich Hitzer.

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