Letter (with Enclosure) from H. W. Henze to F. Hitzer, April 25, 1971

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[Manuscript]

La Leprara
00047 Marino (Roma)
25 April 71
Lieber Frieder,

in Eile hier der verbesserte Text.* Ich
schicke es mit einem kubanischen Genossen
über Paris, denn hier streikt die Post
(sonst hätte ich das MS wie versprochen
schon Freitag abgeschickt)

hoffentlich ist mein Text vernünftig und
logisch. viele angesprochene Probleme sind
eigentlich so enorm dass Bücher daraus
gemacht werden könnten.

   Ich habe viele Schwierigkeiten und einige
ganz ernste Zweifel und Hoffnungslosigkeiten.
Mein Gehirn tut weh davon.*

Ich sehe gerade, die Nürnberger Sache ist drin.*
Die Cimarrón-Gruppe hat, glaube ich, in der
Zeit eine kleine Tournée in der BRD *. Vielleicht
könnte sie doch nach Nürnberg kommen? Rufe
mal an Herrn Witiko Adler, Berlin 8269333, er
organisiert diese Dinge. Er kann Dir alles sagen.
Ich selbst muss hier bleiben und arbeiten.

Viele Grüsse      Rot Front
h [a] ns

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Zusätze

/1

1. Um diese Dinge bildhaft und eindringlich zu machen (besonders dem “ungebildeten” Publikum) verlässt
die Musik verlässt ihren traditionellen Spielraum. Lateinamerikanische Rhythmen
werden “live” zitiert, die Instrumentalisten, von kurzen Notenzeichen
oder auch nur graphischen Parametern angeleitet, improvisieren, werden zu
Akteuren. Als bekannt vorauszusetzende Symbole (Melodien z. B.) tauchen
auf wie Leitfäden, erlauben es dem Hörer, einverstanden zu sein
und den Sinn der Sache nicht aus den Augen, oder besser aus den Ohren,
zu verlieren. Musikinstrumente werden spektakulär zu Arbeitsgeräten, auch
zu Foltermaschinen, später verwandeln sie sich in Waffen. Alle Vorgänge,
Steine die fliegen, Machetes die blitzen und scharf zuschlagen,
besoffene Yankees in den Strassen der “befreiten” Stadt Havanna,
korrupte Pfaffen, das Ave Maria im Sklavenlager usw. usw., bekamen
klanglich-bildhafte Entsprechungen, man hört und sieht gleichzeitig, man
hört mit den Augen, sieht mit den Ohren.

2.

Ich bin für das Umfunktionieren. Kann mir vorstellen, dass Beat Musik, und mit
ihr alles, was die Bewusstseinsindustrie auf den Markt wirft, zu solcher
Veränderung taugt und dass man ihren ursprünglichen “Sinn” oder Zweck wie
Waffen gegen sie selber richtet. Schaut euch an, was die Cubaner
machen, mit Elektronik auf Massen-Ralleys, mit ihrer avantgardistischen
Graphik. Selbst die ehemalige Rundfunk-Reklame ist geblieben: in der gleichen Taktik,
mit der früher Warenanpreisungen über den Aether gingen, werden heute
Slogans der Revolution ausgestrahlt. Dies nur als Beispiel. Mich haben die
Cubaner da sehr ermutigt. Habe gerade ein Stück gemacht der lang-
wierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer
, auf einen Text
von Gastón Salvatore, bei dem ich zahlreiche Manieren der systemimmanenten
Avantgarde-Musik gebrauche um das Selbstportrait eines Links-
bourgeois mit seinen Utopien und Verzweiflungen zustande zu bringen

Das schwerer zu überwindende Element eines bürgerlichen Schönheits-
prinzips, das im Beat genauso steckt wie in der “ernsten” Moderne, scheint


/2

mit der Beobachtung wert: Schön, das ist die Kunst der Reichen, hässlich: das ist
die Kunst der Armen. Die bürgerliche Ideologie, und also mit ihr die
ganze Kunstauffassung, versteht unter Schönheit ein Streben nach Perfektion,
nach dem Kostspieligen, dem Besonderen, sie beinhaltet die Fabrikation
von egozentrischen Träumen und [ein Buchstabe unleserlich] sie braucht egozentrische Träumer. Die eletrischen
Wunderwerke des Beat gehören in dieses Konzept genau so wie die hoch-
polierten o Sinfonieorchester (mit ihrer so bewunderten militärischen Disziplin)
die pausenlos die immer die gleiche Literatur ([kurzes Wort unleserlich] die Bourgeoisie gestohlen
hat) reproduzieren oder die elitären pseudobuddhistischen Meditationen.
Die Schönheit ist heute: ausgeflippt sein. Die Armut ist heute:
wach werden, skeptisch sein, sich nicht einfangen lassen.

Zusatz 3

Meine “Bildung”, mein Musikdenken, mein Dasein ist von der Bourgeoisie
determiniert. [unleserlich] Die Arbeiterklasse hat allen Grund, der ganzen
Kunst aus den letzten Jahrhunderten und aus der Gegenwart mit
Misstrauen zu begegnen, war und ist sie doch automatisch ein Ausdruck der
der bourgeoisen Herrschaft. Erst nach der Revolution kann und muss das ganze Mateterial s o auf seine Brauch-
barkeit hin neu analysiert werden. Ich befinde mich also in einer schwierigen und
widerspruchsreichen Lage, und mit mir befinden sich alle Künstler, ausnahmslos,
in dieser Lage. Wer von uns dem Volk dienen will, muss sich
verändern, sich und seine Arbeit. Vielleicht kann sie auf ver-
schiedenen Gleisen verrichtet werden, in Kontemplation, dann kritisch und
agressiv im reaktinären Überbau, und vor allem dienend und studierend beim Lernprozess, als
Lernender, an der klassenkämpferischen Basis. Was wir da aber mit unseren
Büchern, Bildern und Musiken tun können, und wie wir uns verhalten diese
Werke anlegen, das setzt ein tiefes und demütiges Verständnis der intellektuellen
Probleme des Arbeiters voraus. Ein paar Fragen, die noch nicht beantwortet sind,
gehen in diese Richtung: Was können wir einem Arbeiter bedeuten? Was können
wir ihm sagen? Wie können wir es ihm sagen? Was teilt sich ihm mit?
Wenn wir in der Klärung dieser Probleme (ich meine noch nicht einmal:
Lösung dieser Probleme) nicht weiterkommen, leben wir, die Künstler, seltsame
Einzelfiguren (mit einem Hang zum Einzelkämpfertum) weiterhin in diesem Vakuum,


Marxisten vielleicht, aber ohne Kommunikation mit der Klasse, auf die es ankommt. Wenn
die Kommunikation nicht zustandekommt – und ihr Zustandekommen hängt
nicht von der Arbeiterklasse ab sondern von uns, das Versagen ist liegt bei
uns, unser, nicht der Arbeiter – nützt auch der luzideste Theoretiker
nichts. Das ist das Problem.

In der musikalischen Praxis sähe das also so aus: den Kontakt mit den
Arbeitern suchen (da können die Organisationen helfen) und heraus-
finden, was gebraucht wird, was nützlich ist, was an Hörvoraussetzungen
existiert, auf die sich denen man aufbauen kann.

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: München (Deutschland), Stadtbibliothek (D-Mst), Monacensia
    Shelf mark: FH B 363

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • dünnes blaues Briefpapier
    • WZ: Steglinien 2,6cm; Rundstempel PINEIDER FIRENZE ROMA
    • Extent

    • 1 folio
    • 1 written page
    • Dimensions: 150x213 [mm] (HxW)
    • Condition

    • gelocht (unregelmäßig gelocht: von unten 2cm und 10cm)
    • Layout

    • Die Grüsse und die Unterschrift stehen auf dem linken Rand um 90° gegen den Uhrzeiger gedreht. Henzes "hans" ist hier gelocht!; nicht gefaltet!; lR ca. 3cm (nach unten nur noch 2,5cm)

Writing styles

Text Constitution

  • "a"Text loss by punch

Commentary

  • "… Eile hier der verbesserte Text."Vgl. hierzu die Beilage.
  • "MS"abbreviation of "Manuskript".
  • "… Mein Gehirn tut weh davon."Die Verhaftung von Heberto Padilla und seiner Frau Belkis Cuza Malé in Havanna am 20. März 1971 hatte Henze in eine große Krise gestürzt; vgl. hierzu den Briefwechsel mit Enzensberger in dieser Zeit und die Autobiographie S. 379f.
  • "… die Nürnberger Sache ist drin."Hier spricht Henze das Nürnberger Treffen an, das Hitzer in seinem vorangehenden Brief ausführlich beschreibt.
  • "… kleine Tournée in der BRD"Die Cimarrón-Gruppe spielte nach den Angaben der Zeitschrift Melos am 27./28. Mai in Hagen und Gelsenkirchen und vom 13.-15. Juni 1972 in Mainz, Freiburg und Heidelberg. Im September sind dort keine Konzerte aufgelistet.
  • [Rotation]Section, Text turned clockwise (90°).

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

        If you've spotted some error or inaccuracy please do not hesitate to inform us via henze-digital [@] zenmem.de.