Letter from H. M. Enzensberger to H. W. Henze, July 9, 1969

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9. 7. 69
lieber hans

danke für deinen schönen langen brief. heute, so heißt es und
so hoffen viele leute, wird gaston in rom landen.* ich hoffe,xxxxxx verlaß mich
darauf, daß er schon einmal angerufen wird. ich möchte ihm, wenigstens
was mich angeht, das gedrängel ersparen, diesen ständigen druck einer
menge von leuten um ihn herum, die alle an ihm reißen wie die mänaden
an orpheus, jeder will ein stück. das finde ich nicht nur indiskret,
ich finde es brutal. es ist nicht menschlich, aus der solidarität eine
shylock-schau zu machen, und revolutionär ist es erst recht nicht. also
erst einmal gut durchatmen. ich umarme gaston, ich denke er ist meiner
freundschaft so sicher wie ich der seinen.

ich schicke dir heute das exposé zu rachels lied, eine kopie geht an za-
remba
. die reaktionen der rai sind mir wurst; das hätte noch gefehlt,
daß diese leute uns eine pop-revolution abfordern. ihr verhalten be-
stätigt mir nur, daß es richtig war, unser altes projekt fallenzulassen.
es wäre vielleicht harmloser als das neue geworden, weil flaschxxxxxx flächiger
und plakathafter, beinahe im sinn der poster-welle. alles nur keine
mode machen! ich bin auch nicht dafür, der rai zuliebe (denn ihr zum
ärger und ihr zuliebe läuft fast schon auf das gleiche hinaus) agitato-
rische momente in unser stück zu bringen. entweder die politik kommt aus
den sachen oder es gibt keine. es ist wahr, daß rachel über die konsta-
tation einiger tatsachen nicht hinauskommt: die gesellschaft ist ein
bordell, ihre sentiments sind allesamt schwindelhaft, die kunst nimmt
an der allgemeinen prostitiution[sic] teil. mehr ist mit rachel nicht zu
sagen. wir müssen es nur so sagen, daß diese tatsachen nicht schön
scheinen. das ist zu machen, in dem wir die heutige rachel und vor allem
die zeugen durchaus nackt zeigen, häßlich, verflucht. denn die wahrheit
ist dieses schwarzweiß. die musik und die farbe muß eine reine lüge sein und
als solche gezeigt werden.

ein paar cubanische gedichte richte ich dir gerne her, aber versprich dir
nicht zuviel davon. sie sind fast alle etwas altmodisch, und im fall
padillas, den ich am meisten schätze, voller widersprüche, was freilich
ihren wert ausmacht.*

ich habe ganz gut gearbeitet, manuela die mexikanerin * ist fertig und
recht gut geworden. das verhör von habana, zweihundert seiten, liegt
ebenfalls fertig auf dem tisch. ich möchte damit ins fernsehen, denn das
ist eine politisch ganz klare sache, bei der auch taktiscvh nichts
schiefgehen kann. dieses stück stammt aus der besten zeit der cubanischen
revolution und braucht keine langen erklärungen und rechtfertigungen
es könnte sogar eine bombe werden, wenn es richtig inszeniert wird.*


jetzt arbeite ich an dem buch mit den reden der revolutionüre vor gericht,
ich habe schon dreiviertel des manuskripts. mein eigenes cubabuch *fange
ich im august in moskau an niederzuschreiben. also viel arbeit, das hilft
mir weit eher als aller haschisch, wenn es auch nicht pr8xis ist. ich
mache mir da nichts vor. ich sehe nur keine andere möglichkeit, das ist
alles, und ich lasse mich so leicht nicht von resignation kaputtmachen.
so wie mit wolfgang * wird es mit mir nicht enden. (ich hoffe immer noch, daß
er wieder hoch kommt, aber wenn er nicht arbeitet, ist er verloren.)
was kuroń[sic] und modszelewski angeht*, laß dich nicht von den leichenfledderern
in westen irritieren. das ist eine revolutionäre sache, die erste die
ich aus dem ostblock kenne, und deshalb so wichtig. es ist immer das gleiche.
warum erscheint das nun in dieser nachbarschaft? weil unsere genossen
jeder harten frage aus dem weg gehen, systematisch. ich habe gestern ein
buch über die tscheka und diegx gpu gekauft.* es ist fx von einem mann der
rechten
geschrieben. sehr reich an unentbehrlichen fakten. warum schreibt
das die rechte? gegenfrage: kennst du einen einzigen mann auf der linken,
der sich mit diesen sachen befaßt hätte? Ich weigere mich aber, die
augen zuzumachen. lieber hole ich mir die wahrheit wo sie zu finden ist.
du hast recht, du mußt unbedingt ein zweites mal nach cuba. bei der
redaktion des cuba-kursbuches* habe ich manches wieder gelesen, ud es
ist keine ausrede und keine ausflucht, wenn man sagt, daß die beschissen-
heit, von der wir so betroffen sind, geradenwegs aus der vergangenheit
kommt, erbschaft ist, imperialismus als gespenst, als revenant.

rachel auf dem ichxxx theater? das muß ich mir überlegen. es wird nicht ganz
leicht sein, das eine und das andere zugleich zu machen. vergiß nicht,
daß in diesem stück alles aneinander vorbei redet. das ist kein zufall und
kein mangel, es hängt mit der substanz des ganzen zusammen und ist seine
wahrheit. aber geht das auf der bühne? wir müssen darüber sprechen. ich
freue mich über jed8n deiner einfälle, du hast eigentlich mehr phantasie
als ich; aber ich habe ein gutes auge für die strukturen, und ich bin
sicherer denn je, daß es darauf ankommt, diese strukturen hervorzukehren
und nicht zu verwischen, von ihnen her zu denken. das bedeutet oft, daß
man glänzende ideen opfern, daß man verzichten muß. bei rachel ganz be-
sonders, denn sie ist verführerisch und hält einen gern zum narren.
hörtx zu, tanaquil ist gestern hierher gekommen; gegen den zwanzigsten
fahren wir zu dritt nach süddeutschland, eine woche lang; denn noch drei
vier tage berlin, danach fahren wir, maschaxxxxxx masha und ich, auf vier
wochen nach paxx peredelkino auf die daca. ich umarme dich, du fehlst uns.
ihr fehlt uns beide. bitte ruft uns an.

cariño, m

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
    Shelf mark: Konvolut: Enzensberger, Hans Magnus

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • helles Briefpapier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Extent

    • 2 folios
    • 2 written pages
    • Dimensions: 295x210 [mm] (HxW)
    • Layout

    • anderthalbzeilig, Absätze nicht eingrückt und keine Abstände

Writing styles

Text Constitution

  • Following: handwritten, ballpoint pen (blue), Enzensberger, Hans Magnus
  • Following: Typescript
  • "hoffe,"deleted by overtyping
  • "flasch"deleted by overtyping
  • "prosti u t iution"sic
  • "t""u" replaced with "t"
  • "mit"added above
  • "kuroń"sic
  • "g"deleted by overtyping
  • "f"deleted by overtyping
  • "ie""ei" replaced with "ie"
  • "d""8" replaced with "d"
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  • "ich"deleted by overtyping
  • "a""8" overtyped with "a"
  • "k""t" overtyped with "k"
  • "t"deleted by overtyping
  • "mascha"deleted by overtyping
  • "pa"deleted by overtyping
  • Following: handwritten, ballpoint pen (blue), Enzensberger, Hans Magnus

Commentary

  • "… wird gaston in rom landen."Gastón Salvatore war gemeinsam mit Rudi Dutschke wegen schweren Landfriedensbruch angeklagt und floh am Tage seiner Verurteilung nach Italien und weiter nach Chile; vgl. hierzu auch die Anmerkung im vorangehenden Brief ovn Henze.
  • "… was freilich ihren wert ausmacht."Vgl. den vorangehenden Brief von Henze, in dem er um solche Gedichte bittet.
  • "… gut gearbeitet, manuela die mexikanerin"Einer der fünf Lebensläufe, die Enzensberger 1975 in Der Weg ins Freie. 5 Lebensläufe veröffentlicht hat.
  • "taktiscvh"recte "taktisch".
  • "… wenn es richtig inszeniert wird."Das Werk wurde einerseits verfilmt (vgl. den Eintrag beim imdb) andererseits bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen im Jahr 1970 uraufgeführt.
  • "revolutionüre"recte "revolutionäre".
  • "… des manuskripts. mein eigenes cubabuch"Diesen Plan hat Enzensberger nicht umgesetzt, vgl. Enzensberger, "Tumult", S. 233f.
  • "pr8xis"recte "praxis".
  • "… kaputtmachen. so wie mit wolfgang"Die Hg. hatte vermutet, dass es sich hierbei um Wolfgang Hildesheimer handele. Doch legt die Widmung in zwei Büchern, die in der Henze-Bibliothek überliefert sind, nahe, dass Wolfgang Neuss gemeint ist. Es handelt sich um die Bücher "Das jüngste Gerücht" und "Neuss’ Testament". Letzteres trägt die Widmung: "Warum macht Henze, Enzensberger, Gaston und Neuss, keine Arbeitskommune? Hans Werner? Antwort! Dein Wolfgang Neuss 15. 10. 68". Diese Widmung belegt einen engeren Kontakt Henzes zu Wolfgang Neuss als bisher bekannt war. Außerdem ist bei Neuss belegt, dass er seit Ende der 1960er Jahre beruflich nicht mehr erfolgreich war.
  • "… was kuroń und modszelewski angeht"Vgl. den vorangehenden Brief von Henze.
  • "in"recte "im".
  • "… und die g gpu gekauft."Hierbei könnte es sich um das Buch von Borys Lewytzkyj: Die rote Inquisition, Geschichte der sowjetischen Sicherheitssysteme. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1967. handeln.
  • "… bei der redaktion des cuba-kursbuches" Kursbuch 18 "Cuba" (Oktober 1969 ).
  • "u 8 d "recte "und".
  • "geradenwegs"recte "geradewegs".
  • "jed8n"recte "jeden".
  • cariño
    • In Liebe

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger.

        Legal notice

        Alle Rechte an den Briefen Enzensbergers verbleiben bei der Erbengemeinschaft Enzensberger.

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