Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 5. September 1969

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[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
5. Sept 69
Lieber Mang,

Dein voriger Brief ist nun 2 Monate alt, ich
habe noch nicht geantwortet. Die Arbeit an der 6. Sinfonie
ist noch immer nicht beendet, befinde mich daher in einem
beklagenswerten Zustand. Aber nicht deswegen schreibe ich Dir, sondern
nur so, damit Du was zu lesen hast, wenn Du aus der
Sowjet-Union zurückkommst.* Inzwischen habe ich auch Vorarbeiten
für den Cimarrón gemacht, wir haben auch schon einen Aufführungs-
termin, nämlich den 20. Juni 71 in Aldeburgh, Suffolk.* Mit
Bill Pearson, und Yamash’ta als Perkussionist, Leo Brouwer als
Gitarrist. Somebody will toot[sic] the flute(s). * Du fehlst mir.
Du musst ungeheuer gearbeitet haben.* Könnte ich es doch auch so.
Habe das Sprachproblem und jenes andere das darin besteht dass
die ganze Musik-Avantgarde in der Bourgeoisie sich mästet und
uns keine Idiome bleiben. Versuche es auch in Prosa und bleibe
in den Anfängen stecken. Am 86. November fliege ich mit Fausto
nach Cuba. Die Komponisten * haben mir ein Haus besorgt, angeblich
sehr komfortabel, und eines am Meer wenn ich mal möchte. Es
wird alles ungeheuer gut vorbereitet (von Fausto, er nimmt sogar
Tomatensamen mit, Olivenöl und so weiter, auch faltbare Bizikletten)*
und am 14. Nov. mache ich die neue Sinfonie dort.* Im
gleichen Programm eine Kollektiv-Arbeit von Leo, Fariñas und
Juan Blanco, extra für mich geschrieben.* Leo reist mit dem
Medusa-Band* über Land, berichtet Miguel *, er sagt people were


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La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
enchanted, most of them were workers whyo study at the University
of Oriente.
“ Und dann schreibt er: Rachel, I must tell you,
will be a long movie. We are writing the script and Nicolásh[sic]
Guiilén[sic]
will be the director.
* Aber sonst bezieht er sich nicht
auf das T.V. Projekt. Ich finde wir sollten trotzdem weiter
mit der RAI verhandeln und ich werde in Havana alles regeln.
Schliesslich ist unsere Sache anders, hat sogar ein anderes Medium.*
Der Layout den Du in französisch gemacht hast, ist Klasse[sic], wie
alles was Du machst.* Hat mir viel Lust bereitet und mich die
ersten Töne auch hören lassen. Werde in Cuba die alten Zarzuela-
Musiken sammeln, um sie verwenden zu können in gewissen collages.

Mein Sommer war traurig und monoton und wird es bleiben. Die
Lage von Gastón ist ähnlich, er hat sich auf eine absurde
Sache eingelassen, und es ist mir nicht gelungen, daran etwas zu ändern.
Obwohl es für ihn und die, die es ansehen müssen, unerträglich
ist. Es wäre eigentlich leicht für ihn, sich zu befreien, aber
plötzlich tritt ein moralistischer Aspekt bei ihm auf, den man nicht
erwartet hätte. Es ist zum Davonlaufen. Tut mir so leid.*

Wenn ich Dir verspreche, nie wieder eine Sinfonie zu schreiben*
(was, besonders in diesem Falle, eine Ersatzhandlung ist, steht
für die nichtstattgefundene Revolution in der BRD und auch für
die von mir nicht mitgemachte Zafra , ist auch viel Masochismus
drin und die Tatsache dass ich gern jemand lieben würde mit
Haut & Haar aber nicht weiss, wen) – wirst Du mir dann


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La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
einen Brief schicken? Ich sitz in einem Kellerloch das voll ist
mit leerem Papier, und ich kann nicht raus. Bin alt und müde.
Full of shit. Gastón ist, believe it or not, auf dem Mittel-
meer in einer Yacht mit einem Filmregisseur und dem unvermeidlichen
Nono who is a pain in the neck. Er arbeitet an einem Drehbuch,
believe it or not, weil dann vielleicht Nono als Assistent mit diesem
Regisseur arbeiten könnte.* Dabei könnte Gastón leicht keep away
von all dem und könnte seine Arbeit tun, die wichtig ist. Er könnte
sogar fast glücklich sein, oder doch jedenfalls in Balance. So wie
es jetzt ist, ist es schrecklich.

Bitte, berichte Erfeuliches. Dein Bruder Christian sollte hier auftauchen, aber
hat es bisher nicht getan. Ich bin kaputt. Wenn ich die Partitur
der Sinfonie fertig habe, werde ich ans Meer gehen, wahrscheinlich
zu den Arabern. Aber das wird noch Wochen dauern.*

  Grüsse Masha. Schreib mir. Möglicherweise wird dann alles besser.
Down with work!

Rhodesien war hier, wir haben ganz schön was zusammengetragen. Ein
Teil, der Restbestand der zersplitterten Komune 1 ist leider hier, and
is being obnoxious
.*

Abrazos
hans

ich freu mich sehr auf Cuba,
hoffentlich mit Recht.

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: cremefarbenes, dünnes Briefpapier mit fw auf jeder Seite oben links
    • WZ: Stempelartiges "- PINEIDER - FIRENZE · ROMA"; Stegabstände ca. 2,6cm
    • Faltung: 2mal quer auf Dinlang (klein)
    • Umfang

    • 3 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 247x170 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • Bei allen Blättern ist unten noch ca. 1mm umgeschlagen.
    • Layout

    • von Henze Blatt 2 und 3 oben rechts oberhalb der Briefkopfes mit demselben Kugelschreiber als "2" bzw. 3" gekennzeichnet
    • Rand: 2 bis 2,5 cm
    • Absätze: kein Abstand, kein Einzug
    • Anführungszeichen unten-oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "toot"sic
  • "8"gelöscht durch Überschreibung
  • "6"in der Zeile hinzugefügt
  • "y"gelöscht durch Überschreibung
  • "o"in der Zeile hinzugefügt
  • "Nicolásh"sic
  • "Guiilén"sic
  • "Klasse"sic
  • "Rhodesien"unsichere Lesung

Einzelstellenerläuterung

  • "… Du aus der Sowjet-Union zurückkommst."Enzensberger hatte in seinem letzten Brief angekündigt, dass er den August in Peredelkino verbringen würde.
  • "… 71 in Aldeburgh, Suffolk ."Die Uraufführung fand am 22. Juni 1970 in Aldeburgh statt.
  • "… Somebody will toot the flute(s)."Flötist bei der Uraufführung war Karlheinz Zöller.
  • "… Du musst ungeheuer gearbeitet haben."Vgl. den vorangehenden Brief von Enzensberger, in dem dieser auflistet, was er alles fertig bzw. in Arbeit hat.
  • "… nach Cuba . Die Komponisten"Die Reise wurde von zahlreichen Komponisten, die Henze bei der ersten Reise kennengelernt hatte, darunter Jorge Borréa, Carlos Farinas und Juan Blanco, sowie der cultura des Landes unterstützt; vgl. Autobiographie S. 326f.
  • "… so weiter, auch faltbare Bizikletten)"Gemeint sind Biciclette, d. h. Fahrräder.
  • "… ich die neue Sinfonie dort."Die Uraufführung der 6. Sinfonie fand am 26. November 1969 in Hannava statt.
  • "… , extra für mich geschrieben."Vgl. zu diesen Kompositionen Henzes Beschreibung in der Autobiographie S. 327. Im Prinzip handelt es sich um die Uraufführung von Leo Brouwers Exaedros.
  • "… reist mit dem Medusa -Band"Vgl. die Erläuterung zum Brief vom 3. Januar 1969 .
  • "… -Band über Land, berichtet Miguel"Vgl. diesen Brief von Barnet.
  • "… Guiilén will be the director."Diese Idee scheint nicht umgesetzt worden zu sein. Eine Verfilmung erfolgte erst 1989: „La Bella del Alhambra“ (Enrique Pineda Barnet), vgl. Miguel Barnet, Rachel’s Song, in: The Cuba Reader (https://doi.org/10.1515/9781478004561-038).
  • "… hat sogar ein anderes Medium." „La Cubana“ wurde sowohl als Fernsehoper als auch als Bühnenstück geplant, vgl. die weitere Korrespondenz.
  • "Der Layout den"recte "Das Layout das".
  • "… wie alles was Du machst."Wahrscheinlich bezieht sich Henze hier auf das Layout des Exposés zu „La Cubana“, das Enzensberger in seinem letzten Brief mitgeschickt hat, doch ließ sich dies bislang nicht verifizieren.
  • "… Davonlaufen. Tut mir so leid."Vgl. die erneute Erläuterung zu Gastón Salvatore weiter unten.
  • "… wieder eine Sinfonie zu schreiben"Das Thema, ob die traditionellen Gattungen in dieser Zeit noch „geeignete“ Ausdrucksformen sind, spielte in der Diskussion um das Verhältnis von Kunst und Politik eine große Rolle. Henze schrieb seine nächste Sinfonie erst 1984.
  • "… mit diesem Regisseur arbeiten könnte."In seiner Autobiographie, S. 323, schreibt Henze: "Antonioni wollte mit Gastón als Drehbuchautor einen Film über postachtundsechziger Verhältnisse drehen und auch über das Anhalten und die Weiterentwicklung dieser Verhältnisse bei den westeuropäischen Linksintellektuellen." Es geht wahrscheinlich um den Film „Zabriskie Point“, der 1970 veröffentlicht wurde.
  • "Erfeuliches"recte "Erfreuliches".
  • "… das wird noch Wochen dauern."In seiner Autobiographie (S. 320–325) beschreibt Henze die Arbeit an der Sinfonie, erwähnt aber keinen Urlaub nach deren Fertigstellung.
  • "… and is being obnoxious ."Ulrich Enzensberger beschreibt in „Die Kommune I. Berlin 1967–1969“ die Reise der „Reste“ der Kommune I durch Italien auf S. 341–347.
  • Abrazos
    • Umarmungen

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