Brief (mit Umschlag) von H. W. Henze an P. Sacher, 11. Oktober 1969
Einstellungen
Zeige Markierungen im Text
Kontext
Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1969-09-05: an Enzensberger
- 1969-09-30: von Sacher
Folgend
- 1969-10-25: an Hitzer
- 1969-12-01: von Enzensberger
[Manuskript]
La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
vielen Dank für Deinen freundlichen Brief. Und für das Ausleihen der
Prinzipalstimmen von “Sonata“ – es wird nichts daran verändert.
Den Uraufführungstermin für das Bratschenkonzert, Februar 71, habe
ich mir gemerkt. Geht gut aus mit weiteren Plänen dafür. Mit
der Partitur musst Du noch eine Weile Geduld haben. Ich arbeite
viel langsamer als früher, es gibt so viele Probleme zu lösen und
viel Neues zu berücksichtigen. Aber ich kann Dir sagen dass es ein
schönes (schweres) Stück geworden ist, ganz „woanders“ ...
Die Sozialisten, oder die Cubaner (wen meintest Du?) sind nicht
meine heutigen Hofmacher, wie Du sagst. Ich versuche zu lernen,
das ist alles. Grausam ist der Zustand der Ohnmacht gegenüber jeder
Art von Herrschaft, und jede Art von Herrschaft ist, auf die eine
oder die andere Weise, grausam.
In Cuba (ich fahre im November für 3 Monate hin)* kann man
sehen, wie rührende Versuche unternommen werden, um das Ziel des
Marxismus: den Menschen zu erreichen. Es sind die Dinge, die mich
am meisten überzeugen. Mein eigenes Elend vergeht, wird abgelöst
wie eine Krankheit, ein Krebsleiden. Dort habe ich Hoffnung, nicht
Hoffnung auf mich, sondern auf die Welt.
Kennst Du den Essay von Oscar Wilde
„die Seele des Menschen unter
dem Sozialismus“ – lies ihn einmal. Da hast Du, von einem „un-
verdächtigen“ Autor geschrieben, die ganze Perspektive.
Du sprichst von einem fürchterlichen Erwachen das es eines Tages für
mich geben könnte. Aber ich schlafe und träume nicht, lieber Pablo!
La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
2
Ein fürchterliches Erwachen hatte ich vor ein paar Jahren, als der Zustand
der absoluten Vereinsamung, selbst gewählt, selbst gewollt, im Hochmut
erfunden, nicht mehr erträglich war und zu einer Neurose sich
entwickelt hatte. Als ich kaum noch komponieren konnte, denn es gab
nichts mehr zu sagen. Da hatte ich geschlafen und geträumt, nicht
mehr aufgepasst, hatte nur mich selbst zum Gegenstand. Und es
gibt nichts Langweiligeres als Masturbation!
Es ist eine lange Geschichte.
Ich habe jetzt wieder etwas zu sagen. Mir fällt was ein zum Leben,
zu den schönen und den traurigen Dingen. Auch in absoluter Musik
kann ich es sagen. Mein Thema heisst nicht mehr: Ich, sondern es
heisst: die Menschen. Die Liebe fängt an.
Im Januar bekommst Du die Partitur.*
Möchtest Du den Orchesterlieder-Zyklus? Ich kann ihn im Herbst
70 vornehmen, habe schöne Gedichte dafür*. Könntest ihn 72 machen,
mit oder ohne Fischer-Dieskau (fast möchte ich “ohne“ wünschen,
seine Stimme ist so auf bestimmte Atmosphären monopolisiert, scheint
mir, die der deutschen Hausfrau so gut gefallen – das ist unfreundlich
gesagt, enthält aber eine Prise Wahrheit. Er hat Rezepte für alle
Musiken, drückt auf bestimmte Knöpfchen, das macht mich müde. Aber man
müsste sehen)‡
Am 6. November reise ich ab. Schreibst du mir noch einmal vorher?*
Freue mich, dass das Bratschenstück in Basel kommt. Möchte gern dabeisein,
vielleicht schon ein paar Tage vorher, und Basler kennenlernen. Gibt es noch
die berühmten Perkussionisten*? Könnten wir gebrauchen in dem Stück.
Liebe liebe Grüsse Dir und Maja –
hans werner
[Umschlag, Manuskript]
Svizzera
[auf rotem Untergrund] Posta aerea
par avion
Egregio Maestro,
Paul Sacher
Schoenenberg
CH – 4133 Pratteln
(Basel)
La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Elena Minetti; Irmlind Capelle; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
Signatur: Korrespondenz Hans Werner HenzeQuellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- Briefpapier Henze, dünnes helles Papier; Kettlinien längs 2,7cm
- Faltung: Drittelfaltung (2mal quer bei 7,8 u. 16,4 cm)
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 250x170 [mm] (HxB)
- Rand links: 5 cm; kein Einzug; Anführungszeichen unten-oben
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Handschrift, Henze, Hans Werner, Kugelschreiber (schwarz).
Textkonstitution
-
"… müde. Aber man müsste sehen)"Es steht kein Punkt am Ende dieses Absatzes.
Einzelstellenerläuterung
-
"… November für 3 Monate hin)"Vgl. das 9. Kapitel in der Autobiographie, S. 326–360.
-
"… vornehmen, habe schöne Gedichte dafür"Vgl. hierzu die Korrepondenz mit Hans Magnus Enzensberger aus dieser Zeit.
-
"… du mir noch einmal vorher?"Vgl. hierzu den Beginn des Briefes von Paul Sacher am 8. Mai 1970.
-
"… es noch die berühmten Perkussionisten"Warscheinlich meint Henze hier das Basler Schlagzeug-Ensemble, das 1968 gegründet wurde.