Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 10. September 1969

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[Typoskript]

* lieber hans,

in berlin schreiben sie den zehnten september, das wetter ist
schön und die lage sehr schlecht. moskau hat mich sehr stark deprimiert,
die psychologische kriegsvorbereitung ist erschreckend und die innere
situation aussichtslos.

mascha ist in london und sucht einen job an einer englischen universität.
ich weiß nicht ob ich nach london ziehen soll, habe nicht die geringste
lust dazu, drei jahre aus dem koffer leben* ist genug. ich muß endlich
wieder anfangen zu arbeiten, bereite mich auf eine längere zeit der
überwinterung vor und der beste platz dafür ist der berliner friedhof,
sehr komfortabel, unauffällig und langweilig, bei gelegentlichen
straßenschlachten – die letzte habe ich am 1. august miterlebt.* so
ist meine situation, ich kann sie ertragen. mit der arbeit an meinem
cuba-buch habe ich begonnen, das kapitel über die partei ist fertig.*
bitte schreib mir, wann du nach habana fährst.*

überhaupt: schreib mir bitte. über dich deine arbeit deine laune deine
politisch[e] situation (was man so nennt) und über gaston. es reut mich
daß ich nicht hier war als er nach berlin kam.

auch bin ich neugierig: was macht der cimarrón? und was macht die
rachel? hat sich die bürokratie immer noch nicht geäußert, ob die
oper wird oder nicht? deine frage nach cubanischen gedichten* habe
ich nicht vergessen. hier findest du was ich habe, viel ist es nicht,
auch ein paar lateinamerikanische sachen sind dabei, sieh dirs an und
nimm dir was du brauchst wenn du überhaupt etwas davon brauchen kannst.*
ich käme gern im herbst nach rom, kann aber nur wenn die tv-geschichte*
ernst wird, habe sonst kein geld für solche ausflüge, zur zeit, und
nicht den nötigen leichtsinn.

in deutschland spielen sie wahlkampf, ein ödes schauspiel an das nie-
mand außer grass einen gedanken wendet.* seit acht tagen eine welle
von wilden streiks, die gewerkschaftsbürokratie wird total überrollt.
das ist interessaaxnt; doch rechne ich nicht mit unmittelbaren ver-
schärfungen der lage. ich glaube, wir müssen uns auf längere fristen
einrichten, überwinterung also auch in diesem sinn. ich sähe dich
so gern, weil ich dir ve[r]traue, weil ich auch deinen zweifeln vertraue
und weil du mir sehr lieb bist.

grüß gaston, ich habe seine adresse nicht und kein telefon, wo ich
ihn erreichen könnte.

dein mang

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dünnes helles Briefpapier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 1 beschriebene Seite
    • Abmessungen: 296x209 [mm] (HxB)
    • Layout

    • anderthalbzeilig, kein Einzug, keine Leerzeilen

Schreibstile

Textkonstitution

Einzelstellenerläuterung

  • "… 9. September 1969"Auf Grund der Erwähnung des Bundestagswahlkampfs und der zweiten Reise von Henze nach Kuba, muss der Brief aus dem Jahr 1969 sein. Das genaue Datum, 10. September, ergibt sich aus dem ersten Satz Enzensbergers.
  • "… jahre aus dem koffer leben"Enzensberger war seit Mitte der 60er Jahre sehr viel gereist und war immer nur für kurze Zeit in seinem Berliner Haus gewesen.
  • "… ich am 1. august miterlebt."Auf Grund der Überführung von Kriegsdienstverweigerern von Westberlin in die Bundesrepublik kam es Ende Juli/Anfang August zu heftigen Auseinandersetzungen; vgl. hierzu u. a. Ulrich Enzensberger, "Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969", Köln 2004, S. 335f.
  • "… über die partei ist fertig."Bezeichnenderweise hat Enzensberger sein Manuskript über die kubanischen Erfahrungen nie veröffentlicht; "Hast du auch ein wenig gearbeitet? Du wolltest doch ein ganzes Buch über Cuba schreiben. Das habe ich versucht. Eine sinnlose Sammlung von Materialien hatte ich angelegt, jede Menge von Statistiken, Zitaten, Preislisten – die reine Faktenhuberei. Daß ich es aufgegeben habe, lag nicht nur an einem Rest von Selbstzensur, weil ich keine Lust hatte, auf einen kranken Hund einzuprügeln, sondern vor allem daran, daß mich das Ganze langweilte. So ist dieses Vorhaben einfach versandet." (Enzensberger, Tumult, S. 233). Es erschien nur ein Aufsatz "Bildnis einer Partei. Vorgeschichte, Struktur und Ideologie der PCC" in "Kursbuch" 18 (Oktober 1968), S. 192–216.
  • "… wann du nach habana fährst."Henze war ab 8. November 1969 erneut in Kuba.
  • "… deine frage nach cubanischen gedichten"Vgl. den Brief vom 26. Juni 1969 .
  • "… überhaupt etwas davon brauchen kannst."Einige der Gedichte dürfte Henze in Voices vertont haben. Welche Gedichte Enzensberger genau schickte, ist unbekannt.
  • "… aber nur wenn die tv-geschichte"Enzensberger spricht hier die Verhandlung mit der RAI zu einer Fernsehoper über den Stoff der Rachel an.
  • "… außer grass einen gedanken wendet."Die Bundestagswahl fand am 28. September 1969 statt. Diese Wahl gewann Willy Brandt. Willy Brandt wurde im Wahlkampf von der "Sozialdemokratischen Wählerinitiative" unter Anführung von Günter Grass unterstützt. 1965 hatten auch Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze Willy Brandt im Wahlkampf unterstützt.

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        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger.

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        Alle Rechte an den Briefen Enzensbergers verbleiben bei der Erbengemeinschaft Enzensberger.

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