Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 10. September 1969
Einstellungen
Zeige Markierungen im Text
Kontext
Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1969-07-09: an Henze
- 1969-09-05: von Henze
Folgend
- 1969-12-01: an Henze
- 1970-04-17: von Henze
[Typoskript]
in berlin schreiben sie den ze‡hnten september, das wetter ist
schön und die lage sehr schlecht. moskau hat mich sehr stark deprimiert,
die psychologische kriegsvorbereitung ist erschreckend und die innere
situation aussichtslos.
mascha ist in london und sucht einen job an einer englischen universität.
ich
weiß nicht ob ich nach london ziehen soll, habe nicht die geringste
lus‡t dazu, drei jahre aus dem koffer leben* ist genug. ich muß
endlich
wieder anfangen zu arbeiten, bereite mich auf eine längere zeit
der
überwinterung vor und der beste platz dafür ist der berliner
friedhof,
sehr komfortabel, unauffällig und langweilig, bei
gelegentlichen
straßenschlachten – die letzte habe ich am 1. august
miterlebt.* so
ist meine situation, ich kann sie ertragen. mit der arbeit an
meinem
cuba-buch habe ich begonnen, das kapitel über die partei ist
fertig.*
bitte schreib mir, wann du nach habana fährst.*
überhaupt: schreib mir bitte. über dich deine arbeit deine laune deine
politisch[e] situation (was man so nennt) und über gaston. es reut mich
daß ich nicht hier war als er nach berlin kam.
auch bin ich neugierig: was macht der cimarrón? und was macht die
rachel? hat
sich die bürokratie immer noch nicht geäußert, ob die
oper wird oder nicht?
deine frage nach cubanischen gedichten* habe
ich nicht vergessen. hier
findest du was ich habe, viel ist es nicht,
auch ein paar
lateinamerikanische sachen sind dabei, sieh dirs an und
nimm dir was du
brauchst wenn du überhaupt etwas davon brauchen kannst.*
ich käme gern im
herbst nach rom, kann aber nur wenn die tv-geschichte*
ernst wird, habe sonst
kein geld für solche ausflüge, zur zeit, und
nicht den nötigen
leichtsinn.
in deutschland spielen sie wahlkampf, ein ödes schauspiel an das nie-
mand außer grass einen gedanken wendet.* seit acht tagen eine
welle
von wilden streiks, die gewerkschaftsbürokratie wird total
überrollt.
das ist interessaax‡nt; doch rechne ich
nicht mit unmittelbaren ver-
schärfungen der lage. ich glaube, wir
müssen uns auf längere fristen
einrichten, überwinterung also auch in diesem
sinn. ich sähe dich
so gern, weil ich dir ve[r]traue, weil ich auch
deinen zweifeln vertraue
und weil du mir sehr lieb bist.
grüß gaston, ich habe seine adresse nicht und kein telefon, wo ich
ihn erreichen könnte.
dein mang
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle
Überlieferung
-
Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- dünnes helles Briefpapier
- Faltung: 2mal auf DinA6
- 1 Blatt
- 1 beschriebene Seite
- Abmessungen: 296x209 [mm] (HxB)
- anderthalbzeilig, kein Einzug, keine Leerzeilen
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Maschinenschrift.
-
2.Handschrift, Enzensberger, Hans Magnus, Kugelschreiber (blau).
Textkonstitution
-
"e""w" ersetzt durch "e"
-
"s""f" ersetzt durch "s"
-
"a"gelöscht durch Überschreibung
-
Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (blau), Enzensberger, Hans Magnus
Einzelstellenerläuterung
-
"… 9. September 1969"Auf Grund der Erwähnung des Bundestagswahlkampfs und der zweiten Reise von Henze nach Kuba, muss der Brief aus dem Jahr 1969 sein. Das genaue Datum, 10. September, ergibt sich aus dem ersten Satz Enzensbergers.
-
"… jahre aus dem koffer leben"Enzensberger war seit Mitte der 60er Jahre sehr viel gereist und war immer nur für kurze Zeit in seinem Berliner Haus gewesen.
-
"… ich am 1. august miterlebt."Auf Grund der Überführung von Kriegsdienstverweigerern von Westberlin in die Bundesrepublik kam es Ende Juli/Anfang August zu heftigen Auseinandersetzungen; vgl. hierzu u. a. Ulrich Enzensberger, "Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969", Köln 2004, S. 335f.
-
"… über die partei ist fertig."Bezeichnenderweise hat Enzensberger sein Manuskript über die kubanischen Erfahrungen nie veröffentlicht; "Hast du auch ein wenig gearbeitet? Du wolltest doch ein ganzes Buch über Cuba schreiben. Das habe ich versucht. Eine sinnlose Sammlung von Materialien hatte ich angelegt, jede Menge von Statistiken, Zitaten, Preislisten – die reine Faktenhuberei. Daß ich es aufgegeben habe, lag nicht nur an einem Rest von Selbstzensur, weil ich keine Lust hatte, auf einen kranken Hund einzuprügeln, sondern vor allem daran, daß mich das Ganze langweilte. So ist dieses Vorhaben einfach versandet." (Enzensberger, Tumult, S. 233). Es erschien nur ein Aufsatz "Bildnis einer Partei. Vorgeschichte, Struktur und Ideologie der PCC" in "Kursbuch" 18 (Oktober 1968), S. 192–216.
-
"… wann du nach habana fährst."Henze war ab 8. November 1969 erneut in Kuba.
-
"… deine frage nach cubanischen gedichten"Vgl. den Brief vom 26. Juni 1969 .
-
"… aber nur wenn die tv-geschichte"Enzensberger spricht hier die Verhandlung mit der RAI zu einer Fernsehoper über den Stoff der Rachel an.
-
"… außer grass einen gedanken wendet."Die Bundestagswahl fand am 28. September 1969 statt. Diese Wahl gewann Willy Brandt. Willy Brandt wurde im Wahlkampf von der "Sozialdemokratischen Wählerinitiative" unter Anführung von Günter Grass unterstützt. 1965 hatten auch Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze Willy Brandt im Wahlkampf unterstützt.