Brief von H. W. Henze an W. Jockisch, spätestens am 10. Januar 1951

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[Manuskript]

H
parkweg 8
WBD

Anfang Januar 50. [1951] *

butzi darling,

dankeschön fürs briefli und die schönen büchli. bei valeska *
musste ich fast weinen, was aber nicht zuletzt eine frage der
nerven war. denn für mich bedeutet das dasein am theater ja
doch eigentlich nichts als ein harter aufreibender kampf gegen die
reaktion. jack pudding kam erfolgreich heraus, ein eigenartiger
fremdkörper im repetoire[sic] „des hauses“, ausgestattet von jean-pierre
und mit vielen intrigen und gemeinheiten belastet. dennoch ein
sieg. zwei tage zuvor performierte ich meine „symphonischen
variationen“
weniger glücklich* und mit sehr böser und agressiver
NZ-kritik von hagen . jean-pierre hat fabelhaft gearbeitet
und es waren, after all, schöne tage, allerdings wurde einem die
einsamkeit so sehr bewußt, in der wir modernen leben und leiden.

bin ziemlich kaputt. muß jetzt eine umfangreiche musik zum
„tollen tag“ von b[au eue]marchais schreiben. dann will ich nach paris
(mit bermann-fischers) wahrscheinlich anfang februar. auf letzteres
freue ich mich sehr, es wird mir viele anregungen bringen.* ich bin
auch ohnehin guter dinge – wie butza auch sagt, an sich könnte
ich jetzt ohne weiteres wieder nach berlin gehen.* aber hier sitz ich
auch ganz gut. wenn die theater-arbeit nicht wäre, könnte ich
mit der oper lange fertig sein. bermann sagte, ich solle sie
am broadway herausbringen, er würde das machen. ich sagte, das
wäre fein, aber nur unter Deiner regie. ich bin ganz voll von ideen
für die nächsten bilder, ich muß nur den moment abpassen,
wo ich mich hinsetze und es aufschreibe. Dr. ludwig str. war
in der première von „jack pudding“ , seitdem verkündet er wieder,
ich sei die große hoffnung des verlages. nächster tage will
ich ihm die nächsten ersten bilder bringen, damit der klavier-
auszug schon gemacht werden kann, Ihr müsst also schnellstens
alle regieanmerkungen schicken, die Ihr drin haben wollt.

bei b. fischers habe ich ein wunder von einem jungen menschen ge-
troffen, thomas harlan, ein sprößling von veit h., lebt in paris
und haßt veit, schreibt einen roman in französisch, von dem bermann
sagt, james joyce sei eine morgenlektüre dagegen. beschäftigt mich
sehr, der fall. bermans lieben den chevrolet, wir sausten durch
die gegend.

ein ernstes wort, lieber jockisch. nach dem erfolg in berlin * darfst
Du jetzt auf keinen fall was schlechtes hinterher herausbringen,


will sagen, ein ebensogutes stück! das gibt es natürlich höchst-
wahrscheinlich nicht. ich wüsste keines. ob Du es mit den
beiden dallapiccola-opern versuchst ( „nachtflug“ und „der gefangene“ )
– ich lasse Dir aus amerika kommen „the jumping frog“
von lucas voss, aber ob die musik was ist, weiss ich nicht.
b. fischers fanden es so gut. am besten wäre wieder sowas,
was einen „musical“-charakter hat. brittens „let’s make“
soll sehr dünn sein, ich höre es immer wieder. schade,
daß ich nicht was vorrätig habe. vielleicht könntest Du aber
jack pudding inszenieren, als klassisches ballett, aber mit
lauter surrealismen und mit valeska als mime in der titel-
rolle. j. pudding muss ein mime sein, die anderen alle tänzer.
damit könntest du den leuten auch zeigen, wieviel Du von
choreographie verstehst und wie ballett sein könnte. als form
und sujet ist es sehr geschlossen und gelungen, ich war sehr
erfreut und ermutigt, dieses zu sehen, zumal j. pudding doch
eigentlich ganz peripher und zufällig entstanden ist. es ist voller
effekte (auch V-effekte) und sehr fesselnd und ergreifend, ohne
daß je der boulevard-charakter verloren ginge. think that over,
und dazu könntest Du dann eine kurzoper geben. tatsächlich
scheint mir die idee gut. jean-pierre sollte es ausstatten, aber
das ist keine conditio sine qua non . ich dachte im ernst,
valeska den j. p. mimen zu lassen!! vielleicht erzeugst Du durch
diesen trick eine neue grande sensation. es ist ja doch klar, die
berliner wollen das unerwartete, niedagewesene, und Du bist nun
dazu abgestempelt, der mann des völlig neuen theaters zu sein, der
dauernd neue „geschichten vom soldaten“ aus dem boden stampft,
aber jedesmal sind sie ganz anders. vertu bloß nicht die große
chance. frau b. fischer will Dich übrigens mit bing, dem neuen chef
der metropolitan contacten. Du mußt mir mal eine sammlung der berliner
presse urteile zuschicken und viele bilder von der szene.

wußtet Ihr nichts von heinz’ weggang?* man hätte ihm vielleicht doch
abraten müssen. trotzdem erfüllte mich, als ich die nachricht hörte,
eine solche erleichterung, daß es mir fast peinlich war vor mir selbst.
nun kann ich ja auch zugeben, daß mein zorn auf Euch* daher
rührte, daß Ihr ihn öfters gesprochen etc. habt, wie ich erfuhr. es
muß so gewesen sein, daß er alles von mir wußte, was ich mache,
wo ich bin etc. pp – heute abend ist wieder jack pudding
restlos ausverkauft, seit tagen. wenn Du es in berlin machtest, wäre
der wundertheater-reinfall wettgemacht. vielleicht haben wir bald

gelegenheit, ausführlich darüber zu sprechen.

love
Euer hänschen

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dickeres helles Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA 6
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x210 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Anführungszeichen unten oben
    • Rand: 4cm, Absätze nicht eingerückt

Schreibstile

  • 1.
    Handschrift, Henze, Hans Werner, Füller (blau).
  • 2.
    Handschrift, Kugelschreiber (blau).

Textkonstitution

  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (blau)
  • "… WBD Anfang Januar 50. 1951"Die Adresse und die Anrede sind 2 cm auf den linken Rand rausgerückt.
  • Folgend: handschriftlich, Füller (blau), Henze, Hans Werner
  • "repetoire"sic
  • "au"gelöscht durch Überschreibung
  • "eue"in der Zeile hinzugefügt
  • "… von b au eue marchais"Sowohl die überschriebenen Buchstaben als auch die darüber geschriebenen Buchstaben sind nicht eindeutig zu lesen.
  • "nächsten"durchgestrichen

Einzelstellenerläuterung

  • "… Anfang Januar 50. 1951"Da die Premiere von „Jack Pudding“ am 1. Januar 1951 (vgl. die vorangehende Briefkarte) stattfand, muss dieser Brief von Anfang Januar 51 sein.
  • "… die schönen büchli. bei valeska"Hierbei könnte es sich um das Buch von Valeska Gert Die Bettlerbar von New York handeln, das 1950 erstmals erschien.
  • "… meine symphonischen variationen weniger glücklich"Nach Henzes Bericht in der Autobiographie (S. 116f.) war für die Premiere „die Entfernung einiger für die Aufführung der Sinfonischen Variationen unerläßlichen Instrumente angeordnet“ worden; vgl. auch Geitel, S. 40f.
  • "… wird mir viele anregungen bringen."Vgl. zu dieser Fahrt die Autobiographie S. 119–122 und den Bericht von Klaus Geitel (Klaus Geitel, Jean-Pierre Ponnelle, in: Max W. Busch, Jean-Pierre Ponnelle 1932–1988, Berlin 2002,S. 87–96..
  • "… weiteres wieder nach berlin gehen."Hier spielt Henze auf seinen nicht erfolgreichen Aufenthalt in Berlin Anfang 1950 an.
  • "… nach dem erfolg in berlin"Hier dürfte Henze die Inszenierung von „Histoire du Soldat“ an der Tribüne in Berlin meinen, die großen Erfolg hatte; vgl. Autobiographie S. 107f.
  • [Latein] conditio sine qua non
    • zwingende Bedingung
  • "… Ihr nichts von heinz' weggang?"Heinz Poll ging 1951 nach Chile.
  • "… daß mein zorn auf Euch"Vgl. hierzu den Brief vom 27. November 1950.

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