Brief (mit Umschlag) von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 28. Mai 1978
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[Typoskript]
wie geht das zu? daß ein Freund sehr krank* irgendwo
im tiefsten
Österreich in einem Spital liegt, sogar mehrere Wochen
lang, und davon hört
man nichts? Oder erst ein paar weitere Wochen
später, ganz durch Zufall, in
Stockholm, bei Cattelin*, mittags,
weil Peter Weiß am Tisch sitzt und man
spricht über Ballett, und
Gunillas Pläne, und dann kommt zum Vorschein,
wovon vielleicht
alle dachten daß alle schon davon gehört hätten –
aber ich nicht! also kaum aus dem Norden zurück eile ich Dir zu
schreiben.
Es scheint aber, als hättest du alles überstanden, gut überstanden,
was immer es gewesen sein mag (Genaues wußte eigentlich keiner).
Es ist keine harmlose Sache mit diesen Anfällen und Zufäl‡en,
man erschrickt tief dabei, es k‡ommt einem wie ein Memento vor –
aber was für ein Memento?
Solltest du anders leben? aber wie? vorsichtiger? was soll das
heißen?
Ich weiß darüber am Ende‡ noch weniger als du. Nur
eins könnte ich
mir zu vermuten erlauben: daß du am Ende doch zuviel
arbeitest,
alles in allem genommen, das Dirigieren Reisen Inszenieren
Proben
Verhandeln Aufnehmen – du siehst, ich lasse das Schreiben,‡
,‡ dasx‡
‡
Komponieren,
also die Hauptarbeit bei dieser Aufzählung aus dem
Spiel, obgleich allein
dies, in deinem Fall, mehr ausmacht als
bei andern Leuten ihr ganzes Leben,
ich meine an Energie, Feuer
und Verbrennung –
kurzum, sei fauler. Das ist doch eine Frage der Disziplin, die Faul-
heit. Sie ist unsereinem ja nicht in die Wiege gelegt worden. Mich
hat es
geradezu Anstrengung gekostet, die Arbeit zu vermindern –
seit ein paar
Jahren ist es mir gelungen, und ich befinde mich wohl
dabei. Die sogenannte
Welt (den Flughafen von Tokyo und die kurze
Nacht von Rio) haben wir ja in
Augenschein nehmen können, sie ver-
di‡ent es vielleicht nicht, in regelmäßigen Abständen wieder
aufge
sucht zu werden: das brauche ich dir am wenigsten zu
erläutern.
Ich will damit auch nur sagen: Lassen wir das, was uns
ohnehin
nichts mehr bringt (außer Geld usw.), überlassen wir es
denen,
die danach noch den ursprünglichen hunger haben.
Also Ermahnungen? Lieber Hans, sie sind nichts weiter als in ein-
fache Sätze, wie Palmblätter, gewickelte Embleme der Sorge und
der Freundschaft für dich; kleine zwar unnütze aber vielleicht
willkommene Knotenschriften aus der Fern‡e – da wir uns ja, wie es scheint,
nie, so gut wie nie mehr leibhaftig sehen –
Woran liegt da‡s? Kommst du nie ins langweilige verstaubte schöne Venedig?
Hast du
meine Adresse dort: Zattere 789? Gleich neben der Gesuati-
Kirche?
Im Frühjahr sah ich ein paar Male einen höchst liebe‡nswürdigen (und
überdies fähigen) Mann namens Bernard Jacobson, – wenigstens einer
mit dem man über dich reden kann, auch wußte er dies & das zu melden –
und, wenn er recht behält, werden wir uns, spätestens im Oktober,
in London wiedersehen, bei der dritten Geburt uns‡erer schönen
Cubana – mögen die Götter ihr diesmal gnädig sein!*
Was ich verfaßt habe im letzten Jahr, wird im Herbst zum Druck
befördert und
heißt Der Untergang der Titanic. Eine Komödie
–
ist aber ein episches Gedicht (!) in 33 (!) Gesängen und hat
es,
glaube ich, in sich. Ich freue mich schon darauf, es dir zu zeigen.
Jetzt arbeite ich an einer deutschen Version von Molières Menschen-
feind, und im Frühjahr schrieb ich ein kleines Stück für Radio,
Der to‡te Mann und der Philosoph – ein mit Tusche hingesetztes
Libretto
nach einer chinesischen Skizze von Lu Hsün. Das ist alles – du
siehst,
ich halte mich, einigermaßen, an mein eigenes Rezept.
(Übrigens war ich auch einmal in Rom, zwei trübe tage v‡or Ostern –
aber es antwortete niemand am Telephon.)
Ich brächte dir gerne Blume‡n, um deine Gesundheit zu feiern. Halte
sie fest! Schreib mir einmal, wenn du Zeit hast! Und wenn es geht,
wenn du in der Nähe bist, versäume nicht
deinen ergebenen freund
mang
[Umschlag, Typoskript]
Aufdruck [Lufthansakranich?] Luftpost
Air Mail
Par Avion
Durch Eilboten
Maestro Hans Werner Henze
La Leprara
Marino (Roma)
roter Aufkleber Espresso (Exprès)
Italien
[oben links, diagonal geschrieben]giunto lacerato
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle
Überlieferung
-
Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- helles Papier
- Unterschrift: beige-gelber Stift (relativ fein)
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 297x210 [mm] (HxB)
- letzte Zeile der ersten Seite verrutscht und schief
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Maschinenschrift.
-
2.Handschrift, Enzensberger, Hans Magnus, Filzstift/Fineliner (orange).
-
3.Handschrift, Filzstift/Fineliner (rot).
-
4.Handschrift, Enzensberger, Hans Magnus, Kugelschreiber (schwarz).
Textkonstitution
-
"l""o" ersetzt durch "l"
-
"k""w" ersetzt durch "k"
-
"am Ende"durchgestrichen, handschriftlich, Filzstift/Fineliner (orange), Enzensberger, Hans Magnus
-
","durchgestrichen, handschriftlich, Filzstift/Fineliner (orange), Enzensberger, Hans Magnus
-
","in der Zeile hinzugefügt, handschriftlich, Filzstift/Fineliner (orange), Enzensberger, Hans Magnus
-
"x""," ersetzt durch "x"
-
"… Schreiben , , das x"das "x" ist zusätzlich mit dem orangen Stift gestrichen.
-
"i""e" ersetzt durch "i"
-
"n""e" ersetzt durch "n"
-
"a""e" ersetzt durch "a"
-
"e""n" ersetzt durch "e"
-
"s""d" ersetzt durch "s"
-
"o""i" ersetzt durch "o"
-
"v""i" ersetzt durch "v"
-
"me""em" ersetzt durch "me"
-
Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (orange), Enzensberger, Hans Magnus
Einzelstellenerläuterung
-
"… 28. Maius 1978"Die Jahreszahl ergibt sich aus dem Poststempel auf dem beiliegenden Umschlag.
-
"… daß ein Freund sehr krank"HWH erlitt am 11./12. April 1978 eine Herzattacke und war anschließend mehrere Wochen im Krankenhaus; vgl. Autobiographie S. 459–461.
-
"… in Stockholm , bei Cattelin"Restaurant in Stockholm; vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Cattelin.
-
"… Götter ihr diesmal gnädig sein!"In London erlebte "La Cubana" am 19. Oktober 1978 seine Premiere am English Music THeatre at Sadler’s Wells. Henze erwähnt diese Premiere in seiner Autobiographie nicht.