Letter from H. M. Enzensberger to H. W. Henze, September 11, 1972

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montag anfang sept [1972] *
lieber Bruder in Apoll *,

wieder verspätet – diesmal war ich mit Jeannine eine Woche in Dänemark,
mit der Bahn weil wir immer noch kein Geld haben, am Meer, allein,
keine Leute, endlose Dünenstrecken und ein Holzhaus, wo abends nur
Petroleumlampen sind. Eigentlich ist mir elektrisches Licht lieber.
Aber es war für mich ein luxoriöses Gefühl – ich langweile mich so
selten, manchmal habe ich darauf die größte Lust.

Der Rastelli der Musik – ein unverbesserlicher Punner würde sagen:
Rachelli. Fabelhaft. Du wirst froh sein daß du damit zu Ende bist und
rasch rasch an etwas ganz anderes denken wollen. Ich weiß schon was.
Du hast recht. Mir geht es auch so. Erst die Musik wird mich wieder
auf den Rachel-Trip bringen. Im Augenblick bin ich mit andern Freuden
beschäftigt: visuellen Ideen. Zu meinem Automaten haben sich alle möglichen
andern Text-Objekte gesellt, Textikonen möchte ich das nennen. Sehr
spannend. Es ist etwas was man zugleich mit dem Gehirn und mit den
Händen macht. Wenn du kommst zeige ich dir schon was ich meine. Alle
Leute werden denken, ich bin verrückt.

Wann sehen wir uns? Meine Zeit ist in den nächsten Wochen ein bißchen
kompliziert. Am 27.–29. muß ich nach Frankfurt, danach für ein paar Tage
nach Barcelona. Um den 8. Oktober herum ist Gastons Premiere in Darm-
stadt
*, wo ich natürlich hinmuß und auch brennend neugierig und gespannt
bin, wie die Inszenierung geworden ist. Sonst nach Laune. Sag mir nur,
was diese USAnos* nun eigentlich beschlossen haben.

Das nte Tableau gefällt mir. Es hängt noch mehr als die andern von
der Musik ab, weil die Handlung kaum mehr vorankommt (sie besteht aus
Störungen einer Handlung). Die Bettler sehr sehr gut (besonders schön
daß einer von ihnen stumm ist).

Deine Änderungswünsche* haben mir natürlich allerhand Kopfzerbrechen
gemacht, und zwar vor allem, weil ja alles auf drei Stichworte passen
muß: Liebe, Musik und Kunst; aber ich muß ja zugeben, daß ich überrascht
war, wie wenig Änderungen du mir abverlangt hast. Ich hatte von Anfang an ndxx irgendwie das Gefühl, daß alle Komponisten (verzeih) auf den Texten
förmlich trampeln und einfach 17 einhalb Silben hier weniger und 12 ei[n]viertel[sic]
dort mehr verlangen, basta. Ich glaube mir ist was ganz gutes eingefallen.


Für die vierfache Wiederholung* schlage ich vor:

statt: mit der Liebe mit der Liebe mit der Liebe mit der Liebe mit der Liebe

       mit der leidenschaftlich kühnen mit der ewig immergrünen mit der Liebe

Das würde auch auf Musik und Kunst passen (natürlich mit Veränderung der Präpositionen)

       spiel dirs mal vor ob es wirklich paßt! Weil ichs doch nicht hören
kann.

Die dreimalige Wiederholung könnte man vielleicht lassen, obwohl
viermal für die Liebe ein bißchen viel ist.
für die Liebe für die Liebe für die Liebe für die Liebe
Vielleicht kann man hier das Stichwort noch einmal einsetzen und sagen:
für die Liebe für die Liebe für die immergrüne Liebe
Das wäre silbengleich. Aber aufpassen! Bei Kunst (nur eine silbe[sic]) hieße das:
für die Kunst für die Kunst für die immergrüne Kunst,
und da ist in immergrüne eine Silbe mehr drin. Spielst du dirs mal vor?

Nun zu dem "ich spiele spiele". Das sollte auf keinen Fall wiederholt werden
weil es sich blöder anhört als Rachel sein darf. Aber das macht doch gar
nichts! Hier ist die gewünschte Variante:

Ich spiele eben Gottseidank
ich spiele leider stets vabanque

wobei der Widerspruch sogar ganz hübsch ist – oder nicht? Und zu unserer
Heldin durchaus paßt.

Das Ich weiß, ich weiß, sie ist ja bloß – würde ich mit Wiederholung
stehen lassen – hier finde ich die Wiederholung sogar gut, weil sie den
Satz einem Stoßseufzer ähnlicher macht.

Alles was du über den Schluß sagst hat meinen überzeugten Beifall.
ich finde vor allem sehr gut daß die Musiker (Volksinstrumente) am Schluß
auf die Bühne kommen. Ja! Bettler sollen im Hintergrund der Bühne bleiben
Anfang des letzten Chansons: Am liebsten, wie du vorschlägst, "Ay" und
nicht "Ach, Rachel".

Nur noch eines zum Schluß (und über den Schluß), was mir äußerst wichtig
scheint, auch musikalisch wichtig. Vor der Vorhang fällt haben wir eine
ganze Reihe von Steigerungen, wie angegeben. Vor dem Epilog ebenfalls


viele Leute auf der Bühne und Rachel ganz groß, auch musikalisch reich.
Dazwischen aber, das heißt, von dem Augenblick an, wo die Bühne sich ver-
dunkelt und wo Rachels Zimmerchen hereingefahren wird, denke ich mir
eine Art musikalischen black-outs. Man hört die Bühnenarbeiter die Dekoration
abtragen und auf den Haufen werfen. Sonst kein Ton außer dem Dialog.
Dann – dabei müssen auch die Arbeiter still sein – nur das äußerst dünne,
arme Gewinsel von der Schellackplatte. Es muß nicht nur verkratzt, sondern
auch gequetscht klingen, so wie auf schlechten alten Platten, wo die
Ober- und Untertöne abgeschnitten, das heißt, gar nicht aufgenommen worden
sind. Es ist dieser blecherne, verbeulte, unendlich traurige Sound, den wir
brauchen, nicht einmal laut, sondern Zimmerlautstärke.

Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob sie selber singt, oder ob man nur
die Orchestermusik hört.

Ich denke, daß diese Version von Rachels Illusion eigens arrangiert werden
muß. Nämlich heruntertransformiert auf die äußerste Banalität. Es dürfen
nur noch Akkorde drin sein, die man auch in jeder Jukebox antrifft.

Hier die äußerste musikalische Abplattung, die größte Annäherung an den
Schlager, auch in der Instrumentierung. Der Rhythmus ganz aufs Gängige
eingeschliffen, die Harmonik absolut trivial.

Diese Musik brauchen wir ja auch nur ganz kurz ertragen, vielleicht 15-
2o Sekunden. Aber diese Zäsur, dieses musikalische und akustische Loch
muß unbedingt erhalten bleiben, weil es die eigentliche Beerdigung Rachels
(und einiger anderer Sachen) ist.*

Dann fallen die Zeugen ein, die Arbeiter machen Krach, die Bettler, die
Schlagzeuger, das Gehechel, alles was wir haben und alles was du willst.
Ich denke, du bist sofort einverstanden mit diesem Wunschbild. Und verzeih
wenn ich dir zumute deine eigene Musik bis zur Unkenntlichkeit abzuplatten
(für die Platte) – es muß sein!

Ich bin wieder da. Nicht gerade leidenschaftlich kühn aber in gewissem
Sinne immergrün*, was ich auch von dir hoffe

Viva!
m

Sehr großen dank
für Rachelitas Foto!*

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Paul Sacher Stiftung (CH-Bps)

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • dickeres helles Briefpapier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Extent

    • 3 folios
    • 3 written pages
    • Dimensions: 299x210 [mm] (HxW)
    • Layout

    • anderthalbzeilig, kein Einzug, keine Leerzeile

Writing styles

Text Constitution

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  • Following: handwritten, ballpoint pen (blue), Enzensberger, Hans Magnus
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Commentary

  • "… montag anfang sept 1972"Aus der erwähnten Premiere von Gastón Salvatores Stück "Büchners Tod" in Darmstadt ergibt sich die Datierung auf 1972. Der erste Montag im September 1972 ist der 4. September, da Enzensberger jedoch detailliert auf den Brief Henzes vom 3. September reagiert, kann der Brief wegen der Postwege erst vom 11. September sein.
  • "… lieber Bruder in Apoll"Enzensberger spielt hier auf sein Gedicht "Ein letzter Beitrag zu der Frage ob Literatur?" an.
  • Punner
    • jemand, der ein Wortspiel macht
  • "… Gastons Premiere in Darm stadt"Am 7. Oktober 1972 wurde der Neubau des Staatstheaters Darmstadt mit der Uraufführung von Gastón Salvatores Stück "Büchners Tod" eröffnet.
  • "hinmuß"recte "hin muß".
  • "… nur, was diese USA nos"Gemeint sind die Ansprechpartner der NET.
  • "… Deine Änderungswünsche"Vgl. Henzes Anmerkungen im letzten Brief.
  • "… Für die vierfache Wiederholung"Um diese Änderung zu finden hat Enzensberger auf dem Brief von Henze vom 3. September auf der Rückseite des Blattes Varianten ausprobiert.
  • "Vor"recte "Bevor".
  • "2o"recte "20".
  • "… (und einiger anderer Sachen) ist."Henze hat diesen Vorschlag angenommen, vgl. die Ausführungen im folgenden Brief und die Szenenbeschreibungen sowie den Dialog vor dem Epilog im Klavierauszug S. 271.
  • "… aber in gewissem Sinne immergrün"Anspielung auf das "immergrüne" Duett.
  • "… großen dank für Rachelitas Foto!"Vgl. die Anmerkung zu Henzes Brief vom 16. Mai 1972.

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        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger.

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        Alle Rechte an den Briefen Enzensbergers verbleiben bei der Erbengemeinschaft Enzensberger.

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