Brief (mit Umschlag) von H. W. Henze an G. Weil, 27. November 1977

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Marino, 27 Nov. 77 Liebe Butza,

ja, es muss schrecklich sein, die gegenwärtige situation in der BRD als eine wiederholung von
1933 zu sehen.* ich denke allerdings einiges ist doch anders. z. b. die wahl der sünden-
böcke. in der geschichte wiederholt sich ja nie etwas ganz genau. die deutschen haben
grössere schwierigkeiten als andere völker, aus dem mittelalter herauszukommen. die
massen-mentalität von der ich von früher einiges weiss und von der ich allerdings heute, ausser
scheusslichen und besorgniserregenden reflexen in der presse, nur etwas fühle, und zwar als
atmosphäere (wenn ich dort bin) und mir ein gewisses bild mache durch das zufällige mit-
hören von gesprächen in theaterkantinen, mit taxichauffeuren etc., gibt wie mir scheint das genaue bild
wieder dass die herrschenden sich gern von diser masse und seiner mentalität machen möchten,
kein wunschbild, sondern schon realität: solidarisch reaktionär. die idee dass es gut
und fortschrittlich sein würde, an den prinzipien von demokratie festzuhalten, ist ja wohl
längst aufgegeben.

auch ich fühle instinktiv dass es schöner wäre man würde das land nun meiden. aber ich
denke: solange man noch nicht gezwungen ist, sollte man es nicht aufgeben, sollte versuchen
auch weiterhin seine produktionsmittel aufklärerisch und antifaschistisch zu verwenden. es ist ja


auch irgendwie unser land (und ich verdiene dort ca. 50% meiner revenues) und wir müssen
uns darum kümmern, was aus ihm wird. ich denke nicht dass der kampf der arbeiter-
klasse durch die terroristen-akte beeinträchtigt worden ist*, vielleicht hat er sogar be-
kräftigung erhalten, und es ist etwas geklärt worden, nämlich der unterschied zwischen
den bürgerlichen anarchisten und den arbeitern und ihren „sympathisanten“. übrigens könnte
man auch denken dass alle terroristenakte provokationen gewesen sind, die das publikum ein-
schüchtern sollten und den ruf nach law and order zu einem allgemein empfundenen machen.
von da ab ist es dann leichter, in zukunft dinge wie streiks, demonstrationen (auch die
von 2 millionen arbeitslosen) und ähnliches für staatsfeindlich zu erklären und zu verbieten.
aber wird das sich eine doch immerhin bis zu einem gewissen grad aufgeklärte bevölkerung
auch bieten lassen? druck erzeugt doch gegendruck. ausserdem ist es unvorstellbar, dass
mitten in Europa eine reaktionäre festung entstehen und sich halten könnte, wo alles im
fliessen ist, in der entwicklung, im fortschreiten auf disem schönen und reichhaltigen kontinent.

     Oder man irrt sich (ich irre mich) und es entsteht doch ein internationaler neo-faschismus, harte
regimes die der industrie die nötige absicherung geben um ungestört ausbeuten zu können.
Rosanna Rosandra[sic] , eine römische publizistin, sprach von der BRD neulich als dem vergiftetem[sic]
herzen Europas “
ja, das [leutetleuchtet] auf eine schmerzliche weise ein. Und doch, ich denke an
die kommunistische humanitäre bewegung in Italien, an die fortschritte in Frankreich, und in


Spanien, Portugal, ja selbst England – kann mir nicht vorstellen dass all dies zu nichts
führen sollte, dass alle diese kämpfe und mühen umsonst sein sollten. denn der Marxismus
ist doch eine so gewaltige waffe – das lässst sich nicht mehr ungeschehen machen, das
ist wirklichkeit. die wirklichkeit der BRD ist phantomatisch.

Du siehst mich also optimistisch (relativ) ja, Butza, und ich möchte Dir davon einiges
abgeben. lass Dir nichts gefallen. arbeite gut und kritisiere erbarmungslos wo immer
Du auf spuren von faschismus triffst (da wirst Du viel zu tun haben wohl)

ich gehe morgen für eine woche nach Madrid (im auftrage meiner partei)* dann
kurz nach Stuttgart, wo das genie Dennis Davies mein 2. klavierkonzert dirigiert – das
muss ich hören!* – dann bis ende Januar nach London. adresse c/o Moroni,
3, Fairhalt Street, London SW 7 . im februar inszeniere ich die Zauberflöte
in Stuttgart (premiére ich glaube am 10. märz)* und dann gehe ich nach Marino zurück und
schreibe einen grossen Orpheus für das (Stuttgarter) ballett und hoffe froh und friedlich
sein zu können.

seit märz führen mich meine wege oft nach Amsterdam, wo ich dann mit klopfendem
herzen öfters durch die Beethovenstraat* komme wenn ich zu meinen freunden gehe, one
of which is very dear to me – a sort of love, perhaps real love, I don’t know
I always speak English in A’dam because I’m so ashamed of what the Germans


did there (and elsewhere) und es ist vielleicht eine passion, ja und es gefällt
mir, und ich habe von Yoichi die erlaubnis (was die sache zwiespältiger macht)
und es bg begeistert und stört mich.*

nun muss ich schliessen und chinesische dame spielen mit japanischem herrn.

adieu Butza
mach’s gut
sei umarmt
von Deinem hans

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[Umschlag, Manuskript]



Rft (Germania
ouest)

Ill. Signora,
   Grete Weil
Herzog Sigmund Str. 3
München Grünwald


Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • helles, sehr dickes Papier vom Block
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 296x208 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • die zwei Blätter hängen zusammen
    • Layout

    • Blätter quer beschrieben
    • Rand: 2cm

Schreibstile

Textkonstitution

  • "allerdings"über der Zeile hinzugefügt
  • "wie mir scheint"über der Zeile hinzugefügt
  • "genaue"durchgestrichen
  • "internationaler"über der Zeile hinzugefügt
  • "Rosanna Rosandra"sic
  • "vergiftetem"sic
  • "leutet"durchgestrichen
  • "leuchtet"unter der Zeile hinzugefügt
  • "… viel zu tun haben wohl)"Dieser Satz ist nicht mit einem Punkt beendet.
  • "mä"durchgestrichen
  • "bg"durchgestrichen

Einzelstellenerläuterung

  • "… wiederholung von 1933 zu sehen."Henze spricht hier die Ereignisse und die politische Atmosphäre in der BRD an, die heute unter dem Begriff Deutscher Herbst zusammengefasst werden.
  • "diser"recte "dieser".
  • "… die terroristen-akte beeinträchtigt worden ist"Henze spricht hier die Anschläge der RAF 1976/1977 an. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits die führenden und zu lebenslanger Haft verurteilten Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe im Gefängnis das Leben genommen.
  • "disem"recte "diesem".
  • "… (im auftrage meiner partei )"In der Autobiographie vermerkt Henze, dass er hier Kollegen getroffen habe, die 1978 in Montepulciano arbeiten wollten (S. 458). Ein Programmheft in seinem Nachlass belegt den Besuch eines Konzertes der Grupo de Percusion de Madrid am 29. November 1977 im Teatro Real Madrid.
  • "… – das muss ich hören!"Diese Aufführung fand am 4. und 5. Dezember 1977 in Stuttgart statt. Solist war Paul Crossley.
  • "… glaube am 10. märz )"Die Premiere von Henzes Inszenierung der „Zauberflöte“ in Stuttgart fand in der Tat am 10. März 1978 statt. Die Musikalische Leitung hatte Dennis Russel Davies. Bühnenbild und Kostüme verantwortete Pier Luigi Pizzi. statt.
  • "… herzen öfters durch die Beethovenstraat"Hier spielt Henze auf Weils Buch Tramhalte Beethovenstraat, in dem sie ihre Erlebnisse im Amsterdamer Exil verarbeitet, an.
  • "… bg begeistert und stört mich."Vgl. hierzu die Beschreibung der Affaire in Amsterdam in der Autobiographie, S. 453–462.

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