Brief von H. W. Henze an G. Weil, 29. September 1993

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[Manuskript]



Liebe Grete,

als ich noch in Zürich war*, bekam ich
Dein Brieflein ausgehändigt und freute
mich sehr. Es entstand dann ein Problem,
weil ich über 50% der Wörter nicht
lesen konnte* – ich habe es dann mehr-
fach versucht, wie in einem Puzzlespiel
oder nach Art der Hyrioghlyphenentzifferer[sic]
(wie schreibt man Hy... ??)
herauszukriegen, was es wohl […] hat be-
deuten wollen, aber es gelang leider
[zwei Buchstaben] nur ganz approximativ. Ich erinnere
mich, dass Deine Handschrift schon immer


schwer zu lesen war. Dabei würde es mir
doch einen solchen Spass machen, des
öfteren von Dir zu hören bzw. Lesbares
von Dir zu lesen, lesbares Epistolares*.

Ich habe 4 Kapitel [ein Zeichen] meiner Autobiographie
geschrieben, jetzt bin ich an einem Punkt,
wo ich einige Dinge nicht mehr genau weiss.
Hast Du vielleicht damals in der Boulevard
Zeit und auch davor*, Tagebuchnotizen gemacht,
sodass Du in der Lage wärest, mir zu helfen
und mich wissen zu lassen,*

1) wann wir beschlossen haben, die Oper
zu schreiben?

2) welche Sommer es waren, die ich
bei euch in Egern verbringen durfte

3) gehörte der Sommer 52 auch dazu?

4) Ich würde gern mehr wissen über Deine
Familie und Dich in der Nazizeit –
es war ja immer so eine Art Tabú[sic], eine
Scheu da, sodass ich nie gewagt habe,


nachzufragen – jetzt aber, wo ich auf ganz
korrekte Berichterstattung achten muss,
wären mir genaue Kenntnisse wichtig.*

Es war und ist eine ganz eigenartige
Erfahrung, die so lange zurückliegenden
Jahre im Gedächtnis wachzurufen und [ein kurzes Wort]
zu schauen, wie Personen und Örtlichkeiten
wieder an Farbe, Gestalt und Affekte
annehmen. Zuweilen erinnere ich sogar
die Stimmen alter Freunde und die Umstände und die
wörtlichen Reden, aber andererseits bleiben
quälende Lücken. Wenn Dir noch was ein-
fällt zu jenen alten Zeiten, please let
me know.
Gern würde ich Dir auch, sobald
das uns betreffende 4. Kapitel getippt
worden ist, das Ganze zur Kontrolle und evtl.
gefl. Korrektur & Additionen vorlegen.
Darf ich das?

Es wäre lieb, wieder
von Dir zu hören.
Lovehans


meine Adresse:
C. P. 92
I – 00047 Marino (Roma)
tel. 0039 / 6 / 9388328

ich werde dort ab 11. Okt. wieder sein
(im Augenblick besuche ich hier die Proben
zu meiner 8. Symphonie * –)

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Doppelblatt: helles Papier; 1Bl rechts mit Büttenrand; Blindprägung oben zentriert: Baum
    • Faltung: 1mal quer
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 4 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 217x143 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Adresse von Henze notiert auf 1v um 90° in Uhrzeigersinn gedreht

Schreibstile

Textkonstitution

  • "es"durchgestrichen
  • "Hyrioghlyphenentzifferer"sic
  • "… Hyrioghlyphenentzifferer (wie schreibt man Hy..."Henze deutet hier in unleserlich Schrift erneut das Wort Hyroglyphe an, doch sind nur die ersten beiden buchstaben lesbar.
  • "[…]"gelöschter Text nicht lesbar
  • "[zwei Buchstaben]"durchgestrichen
  • "[ein Zeichen]"durchgestrichen
  • "Tabú"sic
  • "[ein kurzes Wort]"durchgestrichen
  • "an"durchgestrichen
  • "e"durchgestrichen
  • "alter Freunde"über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • "… ich noch in Zürich war"Henze hielt sich im September 1993 für zwei Vorlesungen in Zürich auf; vgl. Autobiograhpie, S. 588.
  • "… der Wörter nicht lesen konnte"Dieser Brief Henzes ist ebenfalls etwas ungelenk geschrieben und enthält viele Durchstreichungen, was an der ungewohnten Verwendung der linken Hand liegen dürfte; vgl. Autobiographie, S. 585.
  • "… Dir zu lesen, lesbares Epistolares"Mit diesem Begriff meint Henzes „Briefliches“, im Gegensatz zu Grete Weils literarischen Werken.
  • "… Boulevard Zeit und auch davor"Das Kapitel 4 endet in der endgültigen Fassung mit dem Umzug nach Italien 1953, umfasst also die Zeit der intensiven Zusammenarbeit mit Grete Weil. Offensichtlich bedeutet also das „geschrieben“ nicht, dass dieses Kapitel bereits abgeschlossen war.
  • "… und mich wissen zu lassen,"Eine konkrete schriftliche Antwort auf diese Fragen liegt nicht vor, vgl. aber Henzes folgenden Brief.
  • "… wären mir genaue Kenntnisse wichtig."Vgl. hierzu die Beschreibung des Ehepaars Weil/Jockisch in der Autobiographie, S. 113–115.
  • "gefl."Abk. von "gefälliger".
  • [Rotation]Abschnitt, Text im Uhrzeigersinn gedreht (270°).
  • "… Proben zu meiner 8. Symphonie"Uraufführung am 1. Oktober 1993 in der Boston Symphony Hall mit dem Boston Symphony Orchestra unter Leitung von Seiji Ozawa.

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        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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