Brief von H. W. Henze an W. Jockisch, November 1949

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[Manuskript]

lieber jockel,

auf Deinen brief hin sehe ich erst, dass ich die zeit zum
schreiben einfach haben muß. seit meinem letzten schrieb
ist allerhand geschehen. hauptgrund für mein schweigen
aber war die arbeit am „georges dandin“-ballett, das ich
vor ca. 3 wochen beendet habe und das recht hübsch
geworden ist, und neuerdings die geburtswehen an einer
3. sinfonie, die ich offiziell eigentlich schon geschrieben
haben müsste in der zeit vom august bis heute.
so ein großes stück absoluter musik ist doch schon
eine geistige anstrengung, der mein schwächlicher organismus
kaum gewachsen ist. hilpert sagt zu solchen impotenz-
komplexen wie auch zu innerlichen regenperioden dies
folgende, was ich sehr schön finde, wenn man es glauben
darf: alles was man fühlt und ausspricht (z. b. auch
sehnsucht) kommt eines tages zurück zu einem selbst, wenn
auch nicht immer in der form, in der man es aus-
gesucht hat. das sagte er mir gestern, als ich beklagte,
den ganzen tag über zwei partiturseiten nicht hinaus-
gekommen zu sein.

von meiner reise, die mich auch nach essen führte, nur
soviel, dass ich peinlichweise zu dr. bauer ging, der
nichts vom „wundertheater“ wußte und nie einen dies-
züglichen brief von Dir bekommen hat.* sic! heinr. trapp
den ich auch traf, sagte, das sei bei Dir nicht weiter
ungewöhnlich, – aber ich bitte Dich nun doch, ihm noch
vor Deiner berlin-reise darüber zu schreiben. wahrscheinlich,
fürchte ich, wirst Du meine sinfonie nun doch nicht
hören in stuttgart,* vielleicht kannst Du aber ein paar
tage verschieben? heinz und ich würden gern bei Euch
wohnen, wenn es ginge.

eine traurige neuigkeit ist noch, dass hier die tanz-sache
schon wieder geplatzt ist.* das kann ich so nicht er-
klären, nur das eine möchte ich sagen, dass hilpert
alle die schwächen gezeigt hat, vor denen Du uns
gewarnt hast. Dir also ein pater peccavi, sonst ist es


natürlich jammervoll. ich mag es jetzt nicht einzeln
schildern. ein abend kam heraus, mit „sylphiden“
„bolero“ und einer schrecklich ordinären sache nach
musik von lecoqu, wobei übrigens der gute marcel
sehr wenig choreographische qualitäten entwickelte.
der kleine heinz war ganz wunderbar, schön, keusch
und ehrfürchtig, ganz ein diener der sache, ein
un-narzistischer zelebrator der reinen abstraktion.
seitdem bin ich wieder ganz verrückt in ihn.
nun ist’s damit vorbei, er geht jetzt stempeln.
aber nächstes jahr wird hilpert eine andere inten-
danz übernehmen und da ganz groß ballett
weiter pflegen, es freut mich, dass er so verrückt
darauf ist.* wir werden rechtzeitig gute leute ver-
pflichten. die choreographische frage steht auch noch
offen. natürlich bin ich mit hilpert auch total
verkracht, er hat sich unmöglich betragen, was Dir ja
nicht neu ist, soviel ich weiss.

ich würde mich sehr freuen, wenn Du noch da wärest
am 1. dez. *, wahrscheinlich kommen wir 2 tage vorher.
ich möchte auch gern mit Dir mal ausführlich
wieder quatschen.

herzliche grüße
auch der grete
Dein hänschen

schreib, ob wir bei Euch
wohnen können und
wo das ist. d.o.

bitte, verplaudere Dich nicht, auch nicht brieflich, h. darf
nicht wissen, dass ich in essen war.

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • beiges strukturiertes Papier
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 295x209 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Rand: 3,5 cm

Schreibstile

    Einzelstellenerläuterung

    • "… Ende November 1949"Da Henze von dem bereits zurückliegenden Abschluss der Komposition des Dandin-Balletts spricht, aber die Uraufführung seiner 2. Sinfonie am 1. Dezember 1949 als in der Zukunft liegend erwähnt, muss der Brief Ende November, vielleicht um den 20. November, da Jockisch noch Zeit zur Antwort auf die Frage der Unterkunft benötigte, geschrieben sein.
    • "… brief von Dir bekommen hat."Vgl. hierzu den Brief vom Anfang Oktober 1949.
    • "… nicht hören in stuttgart ,"Die Uraufführung der 2. Sinfonie fand am 1. Dezember 1949 in Stuttgart statt; vgl. hierzu auch den Brief vom 6. September 1949.
    • "… tanz-sache schon wieder geplatzt ist."Das gesamte Ensemble erhielt seine Kündigung im Januar 1950; vgl. die folgenden Briefe.
    • [Latein] pater peccavi
      • Vater, ich habe gesündigt (Lukas 15, 18)
    • "… er so verrückt darauf ist."Heinz Hilpert leitete ab 1950 die Bühne in Göttingen, vgl. hierzu den folgenden Brief.
    • "… da wärest am 1. dez."Das Datum der Uraufführung von Henzes 2. Sinfonie in Stuttgart.
    • "d.o."Abk. von "der obige".

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