Brief von H. W. Henze an W. Jockisch, Oktober 1949

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[Manuskript]

lieber walter,

eben habe ich essen durchfahren. es ist
abend, und ich suchte den bahnhof ab, ob das glück
dort vielleicht .. auch sah ich die lichtreklamen und
diese strasse mit den cafés – sie war ganz voll
von menschen. dort möchte ich gern mal ein paar tage
allein sein, deshalb fiel mir ein, dass strecker* jetzt dort
mal ganz gewaltig das wundertheater betreiben soll. und
dann fiel mir ein: könntest Du nicht jetzt mal
an dr. bauer schreiben?* vielleicht könntest Du es selbst
inszenieren? lieber walter, es ist mir im grunde nicht
wichtig, viel aufgeführt zu werden. aber in diesem falle:
ich habe dort was zu tun, ins reine zu bringen.
vor 8 tagen verliess ich konstanz, sollte schon lange zurück
sein. in düsseldorf war die konz. urauff. meines balletts.*
nicht sehr doller applaus. ich lernte gründgens kennen. –
me thought it did relieve my passion much, wenn ich
nach essen müsste zum wundertheater, vielleicht
könntest Du schreiben, Du hättest gerade zeit und würdest
es gern gleich machen. meister köhler führt es am
9. okt. in wiesbaden auf (matinée)*, vielleicht, wenn
Du in ffm. bist, kannst Du es sehen, sodass Du die musik
kennenlernst, alles andere ist sicher so furchtbar, wie in
heidelberg. – manchmal denke ich, wie gut es wäre, Dein
vertrauen in anspruch nehmen zu können. ich bin so
masslos unglücklich und brach am vorigen montag denn
auch so richtig mit den nerven zusammen. seit wochen
hatte ich nicht einmal den anflug einer idee, statt-
dessen die täglichen „strindbergs“ als folgeerscheinungen
widerlicher human complications. gewisse schrecklich mo-
mente daraus verfolgen mich mit mörderischer pein.
nun bin ich also auf dem wege zurück in den schauplatz
dieser dinge, wo mein stolz erniedrigt und mein seinsgefühl
in eine kleinliche bourgeoise ebene herabgezogen wird – das
alles vermag der kleine heinz – hätte ich nur keinen finger
gerührt für die engagements-affaire!! aber damals waren
gerade die dollen sachen passiert und ich wollte zeigen
wie anständig ich bin. ich idiot!! schliesslich aber muss


man für alles zahlen – vielleicht ist es gut so wie
es sich zeigt. im moment weiss ich nur
das eine: ich muss mal nach essen und muss
auch nach berlin. frische luft atmen. – das theater
machte auch mehr spass ohne diese grauenhaften
psychischen belastungen. wie froh wäre ich gewesen,
wenn’s mit stuttgart geklappt hätte! das wäre alles
besser gewesen. ich sehne mich nach einer grossen
stadt: die lichter, die anonymität, wie würde
es mich steigern! so aber schleppt man sich an
den restbeständen seiner knapp bemessenen vitalität
dahin.

wie kommt unsereins auch schon anders aus diesem
jammertal als nur durch ein neues erlebnis und aus
dem diesem folgenden jammertal anders heraus als wieder
durch ein neues. immer auf der suche nach der
erfüllung, und in den knochen schon das schlei-
chende gift der resignation: dass es das ja
nicht gibt, eine erfüllung. eine gelunge[sic] arbeit
ist der einzige trost, nachher dann der tod, so
witzlos es auch klingt, es ist ja doch so, man
geht durch das alles hindurch, beirrt und genarrt,
nur das eine ist kein quatsch: dass man es
dann mal aufhören kann. vielleicht gibt es auch noch
sowas wie die weisheit des greisenalters. aber
bis dahin ist man ja so verbrannt, und
eigentlich sind das auch keine gründe, es jetzt
nett zu finden, das leben. lieber jo, schreib mir
doch mal und hilf mit, dass ich nach essen
kann.

tausend grüsse auch der grete
Dein hans

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • beiges Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 290x203 [mm] (HxB)

Schreibstile

Textkonstitution

  • "er""i" ersetzt durch "er"
  • "a""i" ersetzt durch "a"
  • "gelunge"sic
  • "finden""[unleserliches Wort]" überschrieben mit "finden"

Einzelstellenerläuterung

  • "… Anfang Oktober 1949"Da Henze von dem Besuch der Uraufführung der Ballett-Variationen in Düsseldorf am 28. September 1949 berichtet, muss dieser Brief in den ersten Tagen des Oktober 1949 geschrieben sein, zumal die Aufführung des Wundertheaters am 9. Oktober in Wiesbaden als zukünftiges Ereignis erwähnt wird.
  • "… fiel mir ein, dass strecker"Es ist hier nicht zu bestimmen, ob Henze hier Willy oder Ludwig Strecker meint.
  • "… mal an dr. bauer schreiben?"Karl Bauer war zu diser Zeit Intendant in Essen.
  • "… konz. urauff. meines balletts ."Die Uraufführung der Ballett-Variationen in Düsseldorf fand am 28. September 1949 statt.
  • "… okt. in wiesbaden auf (matinée)"Nach Hochgesang, S. 432, war die Aufführung am 9. November 1949 im Rahmen der Deutsch-Französischen Kulturtage.

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