Brief (mit Umschlag) von H. W. Henze an P. Sacher, 27. März 1971

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La Leprara
00047 Marino (Roma)
27 III 71    Lieber Paul,

vielen Dank für Deinen freundschaftlichen Brief vom 2. märz,
und für die übersendung* der Times-besprechung* (die ich als
angenehm empfand, korrekt und fair)

das tonband von Compases ist noch nicht eingetroffen: dabei
habe ich eine solche sehnsucht danach! gerade in diesen tagen ...
liege mit einer influenza auf der nase, bekämpfe sie, aber es
hilft nicht. habe jetzt 3 stunden lang nichts getan, nichts tun
können. endlich habe ich wenigstens genug kraft, Dir in ruhe zu
schreiben, muss es vielleicht in etappen tun.

die Compases-musik begleitet die besseren momente meines
lebens: wenn es ruhig ist, wenn zeit ist für die zarten dinge.
dies ist eines der ganz wenigen stücke von mir an denen ich kaum
etwas auszusetzen habe.

das violinkonzert das ich nun skizziere, soll eine ganz andere
musik werden. Leider ist mein enthusiasmus für das elek-
tronische inzwischen durch eine erste erfahrung mit jener materie
gedämpft worden. möglicherweise mach ich es ganz „ohne“. Du
kannst Dir meine Leiden nicht vorstellen, 3 wochen in diesem
studio, in der Berliner technischen universität, eine qual für
die ohren, es muss alles ganz laut abgehört werden, 7 stunden
pro tag. abends war ich völlig zerstört, wankte zitternd nach
hause.* das einzige was mich an der materie interessiert,


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La Leprara
00047 Marino (Roma)

ist eine möglichkeit von ironie, eine dialektik. einstweilen mach ich
jedenfalls skizzen für die instrumentale seite.

ich habe jetzt zeit für das violinkonzert weil das libretto für mein
vaudeville noch nicht fertig, ist, bzw. weil es umgearbeitet wird.*

weisst Du, ich habe die ganze wintersaison keine konzerte angenommen
und habe jetzt auch noch 3 „auftritte“ in den u.s. abgesagt, um
in ruhe komponieren zu können.

obwohl die verhältnisse nicht so sind: durch den ausfall der konzerte
kann ich zwar komponieren, bin aber in finanzielle probleme geraten:
es ist so ein circulus vitiosus in dem man sich bewegt. wenn ich
Dir also die fertige partitur schon im mai schicken sollte, sei
bitte nicht erschrocken: es wird ein „starkes“ stück (meine konzeption
ist sehr gut) aber ich musste es Dir jetzt schon schreiben, weil
1. der moment gut war 2. ich dringend viel geld benötige (why
deny it?
)

es macht nichts wenn Du es erst in der saison 72–73 ansetzen willst
(vielleicht im anfang?) lass uns nur bedenken, dass es eine
fabelhafte schallplatte geben kann mit “Compases“ auf der einen und
diesem neuen ganz konträren sacher auf der anderen.*

irgendwann einmal, ich hoffe bald schon (nachdem ich ein grosses
theaterwerk gemacht haben werde, ich denke nächstes jahr*) möchte ich
mich für ein paar jahre ganz zurückziehen und nur kammermusik
schreiben, ganz meditativ lebend. vielleicht dann diese kammermusik-
werke allesamt in einem privaten “festival“ uraufführen.* das ist so ein


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La Leprara
00047 Marino (Roma)

traum. ich träume ihn schon ziemlich lange, also eines tages wird
es wirklichkeit werden.

lieber paul ich habe auch darüber nachgedacht was Du gesagt hast,
Deine nachfolgerschaft betreffend: vielleicht wäre das das einzige
was ich jemals an offizieller tätigkeit auszuüben lust hätte. es
hat mich sehr gerührt und geehrt dass Du mir davon gesprochen hast.
es zeichnet sich etwas ab für mich ...

gestern abend habe ich gedacht: wenn das alles so werden sollte, dann
sollte ich paul ein abendfüllendes oratorium schreiben für sein
abschlusskonzert.

Du siehst, trotz grippe und schwäche gibt es konstruktive gedanken
wobei ich immer vergesse wie schmerzhaft die produktion ist,
wie neurotisch man wird dabei und wieviel Neurose[sic] man “mit-
bringen“ muss damit das werk gedeihen kann. noch ein circulus
vitiosus
.

ja, gern wohne ich das nächste mal wieder auf dem schoenenberg. diesmal
war nicht klar ob ich eigentlich geladen war oder nicht und ich wollte
auch nicht direkt fragen. und so kam es dass ich meinen freund
schidor * nach basel befahl. etc etc.

wann kommst Du einmal nach marino?

Du kannst hier in ruhe arbeiten und alles. die küche ist nicht
schlecht, der wein natürlich nicht auf Deinem niveau, es gibt
halt hier nur den landwein (auch eigenbau!) Du musst vorlieb
nehmen.

viele gute grüsse und wünscheDein
hans werner

29. III.
P.S. eben ist das band eingetroffen!
so happy! thank you!

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Paul Sacher
Schoenenberg Pratteln
b. Basel
CH – 4133


La Leprara
00047 Marino (Roma)

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Elena Minetti; Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
    Signatur: Korrespondenz Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze, blaues Papier
    • Faltung: 1mal längs, 1mal quer
    • Umfang

    • 3 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 299x214 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • Risse oben rechts in allen drei Seiten
    • Layout

    • Rand links: 3 cm; kein Einzug; Anführungszeichen unten-oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "… angenehm empfand, korrekt und fair)"Kein Punkt nach der Klammer.
  • "es"über der Zeile hinzugefügt
  • "t""z" überschrieben mit "t"
  • "… jetzt schon schreiben, weil 1."Das „1.“ ist wahrscheinlich etwas nachträglich geschrieben. Es ragt ein wenig auf den linken Rand hinaus.
  • "Neurose"sic
  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (blau), Henze, Hans Werner
  • "… 29. III."Die 29 steht auf den linken Rand herausgerückt.

Einzelstellenerläuterung

  • "… , und für die übersendung"Die Übersendung einer Rezension hatte Sacher in seinem Brief nicht erwähnt.
  • "… die übersendung der Times -besprechung"Hierbei könnte es sich um die Besprechung der Berliner Aufführung von Henzes Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer von Gerald Larner handeln, die im Novemberheft 1971 der Zeitschrift The Musical Times, S. 1096f., erschien.
  • "… zerstört, wankte zitternd nach hause."Henze hatte an der TU Berlin die elektronischen Anteile an seiner Musik zu Natascha Ungeheur aufgenommen, vgl. die Autobiographie, S. 371f.
  • "… bzw. weil es umgearbeitet wird."Vgl. zur Entstehung von „La Cubana“ die Einleitung zum Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger.
  • [Latein] circulus vi t iosus
    • Teufelskreis
  • "… konträren sacher auf der anderen."Diesen Plan hat Henze mit der London Sinfonietta im Juni 1973 bei der Firma Decca realisiert; vgl. die näheren Angaben bei discogs.
  • "… werde, ich denke nächstes jahr"Henze schrieb 1972 kein großes Werk für Theater, sondern erst 1973 La Cubana .
  • "… in einem privaten festival uraufführen."Diese Idee hat Henze zu seinem 50. Geburtstag umgesetzt; vgl. die Briefe der Zeit.
  • [Latein] circulusvitiosus
    • Teufelskreis
  • "… dass ich meinen freund schidor"Vgl. zu Schidor die Beschreibung in der Autobiographie, S. 371f.

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