Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 3. Februar 1971

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[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
3 II 71 Lindo compañero ,

hätte gerne nochmal mit Dir telephoniert aber Du warst wohl in
köln am rhein. (wie schön für Dich) habe die münchener erlebnisse*
recht schnell durch 1 langschlaf überwunden, dinge wie die geld-sammlung für
die teufelianer* (dazu: habe ihnen mitgeteilt, kurt groenewoldt würde
die ganze organisation machen und ein konto einrichten, das könntest
Du ja auch tun ihnen sagen. das macht es ihnen unmöglich die gelder
zu verschlampen. ausserdem sollen sie einen bericht über die polizei-
und justizrepression verfassen auf dessen basis die sammlung erst gemacht
werden kann. groenewoldt meint, letzteres sei ihnen wahrscheinlich an
arbeit schon zuviel, sodass das ganze wohl im sande verlaufen
wird. ich hätte aber gern gewusst, was Du ihnen gesagt hast. das
unerfreuliche an der ganzen sache sind das nicht-politische und die
tatsache, dass wieder einmal „liberale scheisser, die ein schlechtes ge-
wissen haben“ herhalten sollen. wie aber, wenn diese nun kein
schlechtes gewissen haben sollten? etc. etc.) avancen der DKP die
mir unheimlich werden, darüber möchte ich bald mit Dir sprechen, die
grobe hektik auf den strassen, die abwesenheit vom charme, aber
auch von korrektheit und ordnung. es geht einer neuen katastrophe entgegen.
unterm föhn und in schnee und strassenschlamm aber auch diese meine
neue zärtlichkeit, als ob alles noch einmal gut werden könnte. in
wien eine ganz fabelhafte aufführung der Medusa * klar und richtig, sodass
ich sehr zufrieden war. vielleicht wird das stück nun doch auf den weg
kommen. [Abbildung]


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hatte gehofft hier die texte zu finden die luchterhand schicken sollte*,
aber nix. ¿kannst Du mal anmahnen? ich möchte ja doch gern bald
eine zusammenstellung machen können. denke an 2 x 12 lieder etwa.
könnten suiten werden von lustigen, von ernsten und von zarten liedern
aber alle sollen mit dem klassenkampf verbunden sein.*

in münchen war ich 1 tag mit den fetischen unterwegs (junge
arbeiter) (die musik machen) und das hat mir spass gemacht. gan z
ernsthafte junge leute ohne hysterie ohne frustration und ohne klassen-
komplexe, dafür aber bewusst und zum kämpfen aufgelegt.

und dann frage ich mich: was wird daraus werden? wohin wird es gehen,
wozu wird es kommen?

Rachel : es bestehen noch aussichten dass die komische oper es bringt.
habe vorgespräche gemacht mit der bayr. staatsoper: die würden es
als co-produktion mit dem schauspiel im residenz-theater machen wollen.
aber immer nach der komischen oper.

   und ich habe auch mit baumgartner vom theater an der wien
gesprochen (was eine art vaudeville-haus ist) auch dort herrscht ein
interesse. allerdings meinte ein regisseur namens weber, dem ich das
skript zu lesen gegeben hab, wir sollten nicht denken, dass sowas
giftiges den wienern gefiele und es daher zu einer rekordziffer von
aufführungen kommen könnte. er meinte Rachel habe eine wirkung wie
auf die wiener wie der horvárth *: rasiermesserhaft. na ja, muss
man sehen.

¿wann kannst Du das skript mit den veränderungen vorlegen? ich meine
nämlich man sollte das neue skript zeigen und nicht das alte
wenn Du es anfertigst, lieber mang, könntest Du da vielleicht auch
alle die musikalischen indikationen die wir ende dezember hier


3
La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)

besprochen haben, hineingeben?*

und überlege Dir doch bitte, ob die zeugen nicht öfters die alte
Rachel
unterbrechen sollten, so wie sie es in der ersten szene
getan haben.

wenn die brüder von der komischen oper an Dich herantreten, vergiss
eines nicht: die uraufführung müsste ende der saison 71 – 72
sein, also etwa im späten frühjahr 72. die musik wird den
sommer über geschrieben.

    I miss you. ¿kannste nicht ein paar wochen herüberkommen zur fried-
lichen arbeit, etwa im märz? da könnten wir schon mit den
chansons anfangen. habe grosse lust darauf, aber auch etwas lampen-
fieber. könnte mich ja so fürchterlich blamieren!

   Leo schreibt am 10. I er möchte vor freude weinen weil meine einladung
nun o.k. sei. bisher ist nichts eingetroffen. ende märz muss ich in
die u.s., ich glaube also aus cuba wird nichts mehr, natürlich meine ich:
aus meiner reise nach Cuba. na dann ebent nich.

  gib laut, bruder!
abrazos hans

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • BP_HENZE_07: festeres helles Briefpapier mit Briefkopf Leprara links
    • Faltung: 2mal quer auf Dinlang, aber auch einmal in der Mitte
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 280x222 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Rand: knapp 3 cm
    • Absätze ohne Einzug und Abstand
    • Anführungszeichen: unten oben
    • Die Seitenzahlen stehen links oben in der Ecke, auf Seite 3 links über dem Briefkopf

Schreibstile

Textkonstitution

  • "die"über der Zeile hinzugefügt
  • "tun"durchgestrichen
  • "erst"über der Zeile hinzugefügt
  • "sind""ist" durchgestrichen und ersetzt mit "sind"
  • "… gewissen haben sollten? etc. etc.)"Keine eröffnende Klammer.
  • "z"gelöschter Text nicht lesbar
  • "aber immer nach der komischen oper."über der Zeile hinzugefügt
  • "wie"durchgestrichen

Einzelstellenerläuterung

  • Lindo compañero
    • Schöner (Guter) Partner
  • "… Dich) habe die münchener erlebnisse"Es ist bislang nicht bekannt, wann und aus welchem Anlass sich Enzensberger und Henze in München Anfang 1971 getroffen haben. Auf jeden Fall trafen sie dort (wie aus dem Brief hervorgeht) mit ehemaligen Mitgliedern der Berliner 68er-Bewegung und der Kommune I zusammen.
  • "… die geld-sammlung für die teufelianer"Die sog. Tupamaros München um Fritz Teufel; vgl. auch Volker Schlöndorff, Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme, München 2008, Kap. „Rote Hilfe“, S. 208–212.
  • "… ganz fabelhafte aufführung der Medusa"Am 29. Januar 1971 fand im Musikverein in Wien die Uraufführung des Oratoriums „Das Floß der Medusa“ statt. Die Ursendung des Werkes hatte bereits am 9. Dezember 1968 in Hamburg stattgefunden. Da die Aufführung, die eigentlich live übertragen werden sollte, wegen eines Skandals nicht stattfinden konnte, wurde die Aufzeichnung der Generalprobe gesendet. Vgl. die Briefe Henzes und Enzensbergers aus der Zeit.
  • [Abbildungsbeschreibung]längerer (3,5 cm) Pfeil nach rechts.
  • "… finden die luchterhand schicken sollte"Hier spricht Henze wohl den Titel „Lateinamerikanische Gedichte ins Deutsche übersetzt“ von Enzensberger an.
  • "… mit dem klassenkampf verbunden sein."Es handelt sich hierbei um Vorüberlegungen zu Voices.
  • "… die wiener wie der horvárth"Wahrscheinlich ist hier auf die österreichische Erstaufführung von Horváths Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ am 1. Dezember 1948 im Wiener Volkstheater angespielt, die einen Theaterskandal auslöste.
  • "… Marino (Roma) besprochen haben, hineingeben?"Vgl. hierzu den sog. „sound plan“ .
  • abrazos
    • Umarmungen

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