Brief (mit Umschlag) von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 22. Januar 1968

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[Typoskript]

lieber hans werner,

     sau? wer gäbe das nicht zu. aber du verstehst
auch, daß das leben kompliziert wird wenn man mehrere eigene leben anfängt
und sie mit allen roten fäden die es gibt verzwirnt.
dierx seilerei ist ein schweres handwerk, das siehst du in italien heute
noch auf der straße.
jetzt drösele ich meinen strick wieder auf, weil er mich sonst noch
erdrosselt.

vorgestern war ich noch in habana.* das hat mir den letzten stoß versetzt.
ein amerikanisches stipendium* aufzuessen kommt seitdem nicht mehr in
betracht. ich quittiere nächste woche, vermutlich mit eclat, den dienst-
freien dienst hier und lege meinen gastgebern die restlichen dollars auf
die fußmatte.*
denn siehst du es ist nicht gut vom imperialismus immer nur zu reden.
der ist so wirklich wie die telefonrechnung.
dafür gehe ich im oktober nach cuba um dort zu arbeiten, für mindestens
ein halbes jahr. es ist dort eine sehr schwierige aber atemberaubende
revolution, eine revolution die noch imstande ist zu lernen und alles
anders zu machen als vorher.
außerdem ist habana herrlich. arm aber nicht bedrückt

ich weiss noch nicht genau wann ich wieder in europa bin. den februar
über bleibe ich auf eigene faust in new york, dann habe ich noch was
in californien zu tun, es kann mitte märz werden – ich könnte dann
nach marino kommen*, wir könnten zusammen etwas machen. es müßte etwas
neues sein, das sommergedicht ist schon zwei jahre alt, wir sind nicht
mehr dieselben die wir vor zwei jahren waren, jetzt muß man schon
ganz anders reden.

ich äx wär gern dabei. denke nicht an eine "handlung" sondern an handlungen,
sehr viele handlungen, unterbrochen von grellen blitzen, monologisierenden
rezitativen (zb mit ausschnitten aus der verteidigungsrede debarys vor dem
kiexxx bolivianischen gericht); dazwischen grobe reime ("lyrics" in der manier
des englsichen musiktheaters); lärmstellen; die "kultur" wird verwiesen
auf goldgerahmte ax kontrastarien mit poetischem text – da wird unsere


selbstkritik, literarisch und musikalisch – wenn sie wollen, unser abschied
von unserer bisherigen arbeit –
wie lange darf diese "oper" werden?*

ich komme allein – rußland zieht es nach rußland.

schreib mir rasch, ich bin nur noch zwölf tage hier. Trag mir mein schweigen
nicht nach, ich habe allerhand hinter mir.

müssen wir mit schott arbeiten, der allenthalten als verbrecher gilt?

Wenn dich castro einlädt, geh nach cuba! Sie haben dort übrigens ein fabel-
haftes ballett, eines der besten der welt.

wir können uns auch selbst zitieren, natürlich ironisch.
alles bewegt sich, welche freude.

hasta la victoria siempre! Ihr, dein hme. 22 jan 68

bis 5. februar, und dann nie wieder:
center for advanced studies,
wesleyan university
middletown, conn. 06457usa

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[Umschlag, Typoskript]

Center for Advanced Studies
Wesleyan University . Middletown . Connecticut 06457

companero hans werner henze   la leprara   marino (roma)   italia


Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz
    Signatur: Enzensberger, Hans Magnus

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • beiges Briefpapier (emal gefaltet auf DINlang)
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 279x217 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Absätze ohne Einzug, nach jedem Absatz eine Leerzeile

Schreibstile

Textkonstitution

  • "r"gelöscht durch Überschreibung
  • "ä"gelöscht durch Überschreibung
  • "kie"gelöscht durch Überschreibung
  • "a"gelöscht durch Überschreibung
  • Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (blau), Enzensberger, Hans Magnus

Einzelstellenerläuterung

  • "… ich noch in habana ."Wie aus der Antwort von Henze hervorgeht, war Enzensberger dort zu einer Tagung. Es handelt sich dabei um den "Kulturkongress von Havanna", der vom 4. bis 11. Januar 1968 auf Einladung von Fidel Castro stattfand; vgl. die Erläuterung des Lateinamerika-Institut Berlin.
  • "… stoß versetzt. ein amerikanisches stipendium"Enzensberger war zu dieser Zeit als Stipendiat in Middletown/Connecticut.
  • "… restlichen dollars auf die fußmatte."Enzensberger schrieb zur "Quittierung" seines Dienstes einen offenen Brief an den Direktor der Universität, der am 29. Februar unter dem Titel "On Leaving America" in "New York Review of Books" (S. 31f.) und am 1. März auf deutsch unter dem Titel "Warum ich Amerika verlasse" in "Die Zeit" (Nr. 9/1968), veröffentlicht wurde. Uwe Johnson setzt sich mit diesem offenen Brief in seinem Roman "Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl" (Frankfurt 1970–1983) auseinander; vgl. den Eintrag zum 29. Februar 1968 in Bd. 2, S. 794–804).
  • "… könnte dann nach marino kommen"Dieser Besuch in Marino scheint stattgefunden zu haben, vgl. Enzensbergers Brief vom 5. März 1968.
  • "debarys"recte "debrays".
  • "englsichen"recte "englischen".
  • "… lange darf diese oper werden?"Hier äußert Enzensberger erste Ideen zu einer "neuen" Oper, die später in die ersten Entwürfe zu "Andiamo all’ opera" münden; vgl. hierzu die folgenden Briefe.
  • "allenthalten"recte "allenthalben".
  • hasta la victoria siempre!
    • bis zum endgültigen Sieg

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        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger.

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        Alle Rechte an den Briefen Enzensbergers verbleiben bei der Erbengemeinschaft Enzensberger.

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