Grete Weil, “Warum wir eine Manonoper schrieben”
Warum wir eine Manonoper schrieben.
Der Dichter D.W.Auden, Librettist von Strawinskys
"the Rake’s
Progress" sagt, das Textbuch sei "ein Privatbrief des Autors
an den Komponisten".
Immer wieder wurde uns die Frage gestellt, warum wir für eine
moderne Oper den alten Manon-Stoff wählten. Nun ist es nicht
ganz leicht, über eine Stoffwahl zu berichten, denn vor allen
Überlegungen ereignet sich ja meist das Unerklärbare, die
Verzauberung durch ein Thema, das plötzliche Angerührtsein von
einem Schicksal, ganz gleich ob es ein Selbsterdachtes, ein
Wirkliches oder ein Vorgedichtetes ist. In unserem Fall war es
nicht so sehr das Leben der Manon Lescaut, in das wir uns ver-
narrten, als das ungleich tragischere ihres Liebhabers, des
Chevaliers Des Grieux. Ein geistiger Mensch, ein Student, der
zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, verliebt sich in ein
hübsches junges Mädchen, verfällt ihr, die ein Luder ist, so sehr,
dass er sein ganzes übriges Sein vergisst; sie ruiniert ihn
in jeder nur möglichen Hinsicht; am Ende ist er der völligen
Einsamkeit ausgeliefert. Bei Prévost, bei Puccini und Massenet
ist ein zwar trauriger, aber doch versöhnlicher Schluss ange-
hängt: Manon stirbt, durch Liebe entsühnt, in der Wüste.
Dies sentimentale Ende schien uns in einer modernen Fassung
nicht mehr möglich zu sein. Wir wussten, dass es "unsere"
Manon verfälschen, sie ihres Wesens berauben würde, das gera-
de darin besteht, dass die grosse Liebeserweckerin selbst nicht
lieben kann. In ihr ist von allem Anfang an die Einsamkeit,
in die sie ihre Liebhaber stösst. Nur geht sie nicht daran zu
Grunde; es ist das ihr gemässe Element.
Einsamkeit ist ein zentrales Problem unserer Zeit. Wir fanden
unsere Stoffwahl also auch in dieser Hinsicht bestätigt. Denn es
ist die Aufgabe des Theaters (und selbstverstänlich auch des
musikalischen), die heutigen Probleme zu zeigen. Mit modernen
Mitteln. Die alten sind abgebraucht und treffen die ungeheuer
schwierige und gefährliche Situation der Gegenwart nur an der
Oberfläche. Unser Intellekt reicht nicht aus. Beschreibung
lotet nicht die Tiefe. Psychologische und moralische Rezepte
sind im Überfluss gegeben und haben zu nichts geführt.
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Wir verwenden das Bild, in dem der Zuschauer, mit einbezogen,
zur eigenen Entscheidung aufgefordert wird. Bahnhof, Biblio-
thek, Kaschemme sind nicht mehr nur Ort, vom Ablauf der‡
Handlung bestimmt, Kokain und Schnee nicht mehr nur Attribute
der Story; sie alle sind Zeichen und das bedeutet, sie sind
die Sache selbst. Die Identifizierung von Ort und Mensch ist
vollzogen.
Das Wort spielt dabei eine verhältnismässig untergeordnete
Rolle. Der Musik ist es vorbehalten, die Vielschichtigkeit
auszudrücken. Sie bezieht alle Mittel des musikalischen Thea-
ters ein: Gesang, Aktion, Tanz, Pantomime, Raum, Farbe und
Wort. Aus diesem Zusammenwirken ergibt sich die Geschichte
eines Menschen. Um nichts anderes als um den Menschen geht
es im Theater. Nur das Menschliche auf der Szene kann die
Menschen im Zuschauerraum erreichen und ergreifen.
Dieser Text von Grete Weil wurde zuerst im Programmheft zur Aufführung von "Boulevard Solitude" in Wuppertal 1958 (Premiere: 29. Januar 1958) veröffentlicht und wieder abgedruckt im Programmheft zur Aufführung dieser Oper 1974 in München. Die gedruckten Fassungen unterscheiden sich nur geringfügig in Interpunktion und Orthographie.
Editorial
Creation
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Tradition
Writing styles
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1.Typescript.
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2.Handwriting.
Text Constitution
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"vom Ablauf der""der den" replaced with "vom Ablauf der", handwritten
Commentary
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"… Autors an den Komponisten ."Vgl. hierzu den Brief von Grete Weil vom 18. März 1974.