Letter from H. M. Enzensberger to H. W. Henze, June 19, 1968

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*
19. 6 [1968] * Lieber hans

man mißt vierunddreißig grad im schatten, jede politik ist hingeschmolzen
viele leute haben die arbeit fahren lassen.

wir sitzen im garten.

dennoch wird die revolution siegen. nur der gedanke ist nicht angenehm,
daß wir bis dahin vielleicht fünfundsechzig sind.

aus cuba keine nachrichten, niemand außer dir weiß was er im herbst
tun wird.*

ich habe vor mir den cimarrón. das buch ist selbstverständlich (selbst-
verständlich für suhrkamp, einem trödlerladen) noch nicht übersetzt,
ja es ist noch nicht einmal ein übersetzer designiert.* wir haben also
freie hand, andererseits ist die arbeit, wie ich jetzt sehe, schwieriger
als ich dachte. sie wird etwa einen monat in anspruch nehmen.*

die geschichte ist aber ungeheuer, und sie ist für deinen zweck wunder-
bar geeignet. ich will mich also, wenn du es wünschst, bald an diese
arbeit machen. du könntest den text dann im sommer komponieren.*

damit du siehst, was für ein ton im cimarron herrscht, gebe ich dir ein
paar sätze vom anfang in einer sehr rohen übersetzung:


„es gibt dinge im leben, die ich mir nicht erklären kann. alles das,
was mit der natur zu tun hat, ist für mich sehr dunkel. noch dunkler
sind die götter. sie sind sehr unbeständig und wankelmütig. aus diesem
grund sind so viele sonderbare dinge geschehen. ich erinnere mich, früher,
in der sklaverei, habe ich mir die zeit vertrieben, indem ich nach oben
sah; denn der himmel hat mir immer sehr gut gefallen, wegen seiner farben.
einmal färbte der himmel sich wie eine kohlenglut, und es war eine wütende
dürre. am andern tag verdunkelte sich die sonne. es war am nachmittag um
vier uhr, und es war über die ganze insel hinweg. es schien als kämpfte
der mond mit der sonne. ich merkte, daß alles rückwärts ging. die hühner
stiegen auf ihre stangen. niemand sprach vom essen. manche starben am
herzschlag, andere blieben ihr leben lang stumm.

ich aber fragte mich nicht, woher das kmxx kam. ich weiß nur, das alles hängt
ab von der natur. die natur ist alles, auch das was man nicht sieht....“

*

Lebe wohl, und läute an, wenn es etwas neues gibt.
Dein hm.

hast du von rudi gehört?*

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • dickeres helles Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Extent

    • 1 folio
    • 1 written page
    • Dimensions: 297x210 [mm] (HxW)
    • Layout

    • Schreibmaschine mit kursiver Type; anderthalbzeilig, keine Einzüge, keine Leerzeilen

Writing styles

Text Constitution

Commentary

  • "… "Diesem Brief lag ein Brief Enzensbergers an Gastón Salvatore vom gleichen Datum bei.
  • "… 19. 6 1968"Auf Grund der ersten Erwähnung des "Cimarrón" muss der Brief aus dem Jahr 1968 sein, da Enzensberger ihn bereits im November 1968 im Kursbuch veröffentlicht.
  • "… er im herbst tun wird."Henze musste im Herbst sein Oratorium "Das Floß der Medusa" vollenden, da die Uraufführung für den 9. Dezember 1968 angesetzt war.
  • "… nicht einmal ein übersetzer designiert."Enzensberger spricht hier von der deutschen Fassung des Dokumentarromans von Miguel Barnet, die 1969 im Insel Verlag in Frankfurt in der Übersetzung von Hildegard Baumgart erschien.
  • "… einen monat in anspruch nehmen."Im Kursbuch 15 (November 1968, S. 1–15) veröffentlichte Enzensberger eine Auswahl aus dem Cimarrón in eigener Übersetzung und mit einer kurzen Notiz (S. 16f.) dazu.
  • "… text dann im sommer komponieren."Henze muss das Interesse an dieser Arbeit bald bestätigt haben, vgl. die folgenden Briefe.
  • "… das was man nicht sieht....“"Die dann ausgearbeitete Übersetzung lautet:

    „Es gibt auf der Welt allerhand Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Alles was mit der Natur zu tun hat, wundert mich. Noch dunkler sind die Götter. Die Götter sind sehr eigensinnig und voller Launen. Daher kommt es, daß auf der Erde so sonderbare Dinge geschehen. Früher, in der Zeit der Sklaverei, habe ich oft in den Himmel geschaut. Die Farbe des Himmels gefällt mir sehr. Einmal hat er sich verfäbt wie eine Kohlenglut, und es gab eine entsetzliche Dürre. Ein anderes Mal verfinsterte sich über der ganzen Insel die Sonne mitten am Tag. Es war als ob der Mond mit der Sonne kämpfte. Die Welt ging rückwärts. Manche verloren die Sprache. Andere hat der Schlag getroffen.

    Ich weiß nicht, woher solche Dinge kommen. Die Natur bringt sie hervor. Die Natur ist Alles, auch das was man nicht sehen kann.“

    >; vgl. Kursbuch 15, S. 1.
  • "… hast du von rudi gehört?"Rudi Dutschke wurde bei einem Attentat am 11. April 1968 durch Joseph Bachmann lebensgefährlich verletzt und erholte sich ab Mitte Juni in einem Schweizer Sanatorium und ab Mitte Juli 1968 in Marino bei Henze (vgl. Autobiographie S. 294). Das genaue Datum, seit wann Dutschke in Marino lebte, ist nicht bekannt. Da Henze am 16. Juli 1968 nach Santa Fe flog, er aber Dutschke noch persönlich in die Villa einführte, müsste Dutschke dort vor dem 15. Juli angekommen sein. Um Rudi Dutschke vor der Presse zu schützen, wurden die Aufenthaltsorte geheim gehalten. Vgl. hierzu auch die Beschreibung in: Gretchen Dutschke, "Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke. Eine Biographie", Köln 1996, S. 197–210.

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        Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Hans Magnus Enzensberger.

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        Alle Rechte an den Briefen Enzensbergers verbleiben bei der Erbengemeinschaft Enzensberger.

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