Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 3. November 1973

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[Typoskript]

3.11.73 *
Lieber Hans mit dem blauen Papier

mein Haupteinwand gegen Italien ist der, daß einer der dort lebt
unerreichbar ist wie der Gral. Was die Post angeht, so wissen
hiesige Gazetten von dauerhaften Streiks zu berichten, und im
Fernsehen sieht man modernde Postsäcke tonnenweise in römischen
Schuppen und Kellern. Vom Telefon wollen wir schweigen. Während
der ganzen unmenschlich langen Zeit zwischen Ingeborgs Unfall
und ihrem Tod* habe ich immer wieder versucht dich anzurufen, weil
ich mir lebhaft vorstellen konnte wie dir zumute war. Höhnisches
Piepsen aus der Muschel zu allen Tages und Nachtzeiten. Das ist
nicht gut und kann im Notfall sogar gefährlich sein. Man hat das
Gefühl der vollkommenen Ohnmacht. Es könnte Gott weiß was pas-
sieren und du wärst schlechterdings nicht zu erreichen. Das macht
mir Angst.

Umso mehr freue ich mich dann wenn ein blaues Papier* ankommt,
und die Zeichen darauf die immer so exotisch aussehen als fändest
du dich nur nolens volens mit den lateinischen Zeichen ab und
könntest dir was besseres ausdenken. Dagegen ich mit dieser tri-
vialen Maschine, die ich freilich ungeachtet ihrer Allerwelt-
signale mindestens so gern mag wie der Kupferstecher seinen
Stichel – immerhin eröffnet sie mir alle Freuden der Kombinatorik.

Also ich gebe zu daß ich I.s Geschichte nicht in die Augen sehen
kann. Ich verdränge sie soviel ich nur kann. Und ich gestehe dir
auch, daß das nichts neues ist. Schon seit Jahren habe ich ver-
sucht, sowenig wie möglich an sie zu denken. Ob das schön ist oder
häßlich oder moralisch oder nicht. Immer habe ich gewußt, das ist
jemand dem nicht zu helfen ist. Sie wußte es auch und war vielleicht
auf eine dämonische Weise stolz darauf. Das entmutigt mich so daß
ich mich den andern zuwende, denen zu helfen ist (und die mir helfen
können) wenn auch nur auf die winzigste Weise. Aber eben auf die
winzigste Weise kommt es an. Fürchterlich bleibt das Ganze, auch
unerklärlich.


Obwohl es dir gut geht und das freut mich sehr spüre ich aus deinem
Brief
irgendeine verborgene Malaise. Hoffentlich setzt sich die nicht
fest. Wenn es einem gut geht und man "nicht klagen kann" (eixxx (a priceless
expression!
), dann ist es ja sch[w]ierig[sic] so etwas zu äußern. Man hat
gewissermaßen kein Recht dazu. Dies ist mein Fall, auch wenn die
Malaise sicher anderswo sitzt als bei dir. Und meine Medizin dagegen
ist eine heimliche Reserve an fröhlichem Zynismus, der mir nachge-
rade moralisch erscheint angesichts der unermeßlichen und widerwärtigen
Dummheit und angesichts der sx schwachsinnigen Ausreden die wie eine
Schneedecke über dem Ganzen liegen. Ein bißchen gaia scienza kann
dan nichts schaden, man muß diesen grauen Schnee in regelmäßigen
Abständen abschütteln wenn man nicht umkommen will. Und es wird
mir zusehends gleichgültiger, was rechte und linke Zensoren davon
halten.

Ach!

Jetzt noch dieser Winter. Muß die "Natur" unbedingt auch noch ihr Schärflein beitragen?

Gut. Dann lese ich eben Joseph Conrad. Und wende den Aktualitäten den Rücken zu.

Rogelios Brief ist schön und rührend.* Ich glaube immer noch nicht,
daß man die Cubaner in grauen Schnee verwandeln kann.

Ob dies dem Stadttheater von Zürich gelingt?* Düggelin wäre es viel-
leicht zuzutrauen. Können wir nicht den Schweizern von uns aus einen
Regisseur unte rsxchieben? Ronconi? Minks? Muß es denn ein Eidgenosse
sein? Ich fürchte diese Leute. Der Gärtner vom Gärtnerplatz * ruft jetzt
immer bei mir an, letzthin um zu sagen daß Götz Friedrich, der in
Deutschland Nr 1 geworden zu sein scheint, in München die Cubana
vor die Leute setzen will, kann aber erst anno 1975.* Mir soll das
alles recht sein. Nur muß man uns dann freie Hand lassen für Zürich
Wien und andere Länder. Das Musiktheater scheint ein Medium zu sein
für das man sozusagen posthum arbeitet. Du denkst dir was und frühestens
fünf Jahre später kommt die Nachricht bei einemxxxxx den Leuten an die
im Parkett oder auf den Rängen sitzen. Wenn ich an 1976 denke fühle
ich mich fast wie mein eigener Großvater, die alte Rachel kommt mir
vor wie meine Enkelin – ein verrücktes Verhältnis zur Zeit haben diese
Institutionen, als bliebe ihnen noch eine unabsehbare Zukunft. Welch
ein vernagelter Optimismus! Für 1976 würde ich mir nicht mal eine
Zeitung bestellen,


Freue Mich sehr das Blumenfest zu hören! Oder die Partition zu bewundern.
Ist der ganze Zykel denn fertig? Wenn es an dem ist, so bitte ich dich
um Copien der rosa Zettel die du an die Gemischtwarenanstalt geschickt
hast (so löse ich mir die Abkürzung GEMA auf) damit auch ich das Meinige
tun kann.

Einen Zweig für Yoichi dessen wir gern gedenken. Wann wird man das
erste Stück seiner gläsernen Kunst in der Hand halten?*

Leb mir wohl und gedenke meiner so wie
deiner gedacht wirdDein mang

ein feltrinelli[sic] Bildchen damit du mich erkennst
wenn wir uns wieder sehen*

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dickeres helles Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 3 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 297x210 [mm] (HxB)
    • Layout

    • anderthalbzeilig, in der Regel keine Leerzeilen, keine Einrückung.

Schreibstile

Textkonstitution

Einzelstellenerläuterung

  • "… 3.11.73"Die Punkte stehen mittig zwischen den Zahlen.
  • "… Ingeborgs Unfall und ihrem Tod"Ingeborg Bachmann erlitt in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 schwere Verbrennungen und starb am 17. Oktober 1973.
  • "… dann wenn ein blaues Papier"Henze schrieb seine Briefe auf sehr dünnem, hellblauem Briefpapier mit vorgedrucktem Briefkopf. Enzensberger spricht hier den Brief Henzes vom 23. Oktober 1973 an.
  • [Latein] nolens volens
    • notgedrungen
  • gaia scienza
    • frohe Wissenschaft
  • "dan"recte "da".
  • "ä"recte "e".
  • "… Brief ist schön und rührend."Vgl. Henzes vorangehenden Brief.
  • "… dem Stadttheater von Zürich gelingt?"Hier spricht Enzensberger Henzes Hinweis auf das Interesse des Theaters in Zürich, "La Cubana" zu inszenieren, an.
  • "rsxchieben"recte "rschieben".
  • "… Leute. Der Gärtner vom Gärtnerplatz"Wahrscheinlich meint Enzensberger hier den Intendanten des Theaters: Kurt Pscherer.
  • "… aber erst anno 1975 ."Die szenische Uraufführung von "La Cubana" fand am 28. Mai 1975 am Staatstheater am Gärtnerplatz in München statt. Regisseur war Imo Moszkovicz; vgl. die Briefe aus dieser Zeit.
  • "… Kunst in der Hand halten?"Yoichi Ohira hatte seine Studien an der Accademia di Belle Arti (Venedig) abgeschlossen und sich seit 1973 der "Fucina degli Angeli" von Egidio Costantini angeschlossen.
  • "… wenn wir uns wieder sehen"Diese Photographie von Inge Feltrinelli konnte bislang nicht nachgewiesen werden.

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