Brief von H. W. Henze an W. Jockisch, 12. Mai 1950

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[Manuskript]


geliebter butzo,

ich bedaure. daß Du mich nicht erwischt hast, denn
ich hätte mich so gern mit Dir besprochen über alles, es
ist im brief nicht gut möglich. So werde ich also nächste
woche mit zehden’s auto nach stuttgart kimmen[sic] und etwas
dort verweilen*, nicht zuletzt um kusserow zu sprechen
wegen göttingen *. die tanzgruppe soll complet sein. durch
die verschiebung Deiner premiére* seid Ihr auch ganz in
den dispositionen gestört, ich selber durch ein geradezu
unbeschreibliches leeregefühl und angst und müdigkeit.
mein[sic] p läne sind ungefähr so: nicht nach salzburg, wohin
ich eingeladen war für ende mai *, sondern versuchen, hier
einer noch nicht begonnenen liebe zu pflegen und etwas
zu arbeiten, z.b. artikel schreiben.* dann wenn möglich,
schon im juni nach egern,aber nur wenn mit meinem evtl.
sehr schönen und gutherzigen bubi, sonst werde ich verrückt.
in egern bleiben im juli + august, ende august einer
einladung zum dodekaphonistenkongress nach locarno *, an-
schliessend nach venedig *. – meine sinfonie „anrufung
apolls“
wird nicht in paris gespielt. stattdessen in
donaueschingen *, und scherchen spielt meine 2. in darmstadt *.
ende mai dirigiere ich hiergeorges dandin“.*

zur hebung meines selbstgefühlts tat ich vieles, doch das
ergebnis war vernichtend genug, daß ich nach der odysee[sic]
durch viele betten so dastehe wie je zuvor. und
es lähmte mich auch, jean pierre war drei tage hier
und ich liebe ihn unendlich, aber ich kann es ihm
gar nicht sagen.

lieber butzo, ich möchte gern friedlich und still arbeiten am
tegernsee. in 3 monaten müsste ich eigentlich die
manon“ fertig haben. in meiner vorstellung ist das gesamt-
bild übrigens ein ganzes stück mehr in das terrain des


kabarettistischen gerückt. darüber mündlich ganz ausführlich.
ich glaube, das project[sic] ist sehr gut. hoffentlich funktio-
niert die liebe butza richtig. Ihr müßtet beide immer
dabei sein, aber mir auch gestatten, meinen bubi, den
ich z.zt. erobere und der so aesthetisch ist und so
wenig anstrengend, daß es gerade richtig ist, ihn dabeizuhaben.

   je länger ich von berlin fort bin, desto schlimmer
erscheint mir das gewesene,* und ich habe vorläufig nicht
die leiseste neigung, wieder hinzugehen. aber ich plane
auch nichts definitives – es muß sich ergeben, und ich
werde sorge tragen, daß ich gut lebe. ich bin
sehr schwer angeknockt und bin gefährdeter als je, den
boden zu verlieren. ich will nie mehr das opfer
eines milieus oder eines menschen werden, sondern mein
eigener herr, und will viel geld haben und luxus.
z. b. spätestens in einem jahr muß ich mir ein
auto leisten können.

macht der reutter spaß? ich sähe gerne ein paar
vorgeschrittenere proben von Dir. also komme ich
nächste woche. auch möchte ich etwas von den
opern in wiesbaden sehen, z.b. pelleas, das angeblich
in der neuen dekoration gegeben wird.* ich sprach
mit camaro über „manon“, er hatte gute ideen und
verstand unsere tendenzen. ich höre schon ziemlich
viel musik davon klingen.

innigst
Dein
hänschen

Übersetzung von

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • hellbraunes Papier
    • Faltung: 1mal auf DinA6
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 210x147 [mm] (HxB)
    • Layout

    • kaum linker Rand (max 1 cm), keine Einrückung
    • Anführungszeichen unten oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "kimmen"sic
  • "mein"sic
  • "p""b" überschrieben mit "p"
  • "aber"über der Zeile hinzugefügt
  • "odysee"sic
  • "project"sic
  • "ihn""[unleserlich]" durchgestrichen und ersetzt mit "ihn"
  • "… es gerade richtig ist, ihn"Auch das kurze unleserlich gestrichene Wort war bereits nachträglich eingefügt.

Einzelstellenerläuterung

  • "… kimmen und etwas dort verweilen"Henze hatte bereits Mitte April 1950 angekündigt, dass er vor der Premiere von ReuttersDon Juan und Faust“ nach Stuttgart kommen wolle.
  • "… kusserow zu sprechen wegen göttingen"Zu dieser Zeit überlegte Henze noch, ob er mit Heinz Hilpert nach Göttingen gehen solle.
  • "… durch die verschiebung Deiner premiére"Offensichtlich war die Premiere der Uraufführung von Hermann Reutters Oper „Don Juan und Faust“ früher geplant. Sie fand am 11. Juni 1950 in Stuttgart statt.
  • "… eingeladen war für ende mai"Zu dieser Einladung ließ sich bislang nichts ermitteln.
  • "… zu arbeiten, z.b. artikel schreiben."Von Henze erschien z. B. in „Melos“ Juni 1950, S. 166f. ein Artikel zu dem Thema „Musik und Film“. Bereits im März-Heft 1949 von „Melos“ hatte Henze einen Beitrag publiziert: „Das neue ’Marienleben’“, S. 76f.
  • "… einladung zum dodekaphonistenkongress nach locarno"In Locarno sollte vom 31. August bis 2. September 1950 „die zweite Internationale Arbeitstagung für Zwölftonmusik“ stattfinden, doch wurde diese später auf Frühjahr 1951 verschoben „da mehrere, vor allem amerikanische Gäste absagten“; vgl. „Melos“ 1950, S. 189 und 269, Zitat 269.
  • "… , an schliessend nach venedig"In Venedig fand vom 4. bis 24. September 1950 das 13. „Festival Internazionale di Musica Contemporane“ statt; vgl. den Bericht in „Melos“ Dezember 1950, S. 352–354.
  • "… paris gespielt. stattdessen in donaueschingen"Die Uraufführung der 3. Sinfonie erfolgte am 7. Oktober 1951 in Donaueschingen.
  • "… spielt meine 2. in darmstadt"Die Aufführung erfolgte am Abend des 27. August 1950 im Rahmen des Orchesterkonzerts.
  • "… ich hier georges dandin ."Nach „Melos“ Juni 1950, S. 188 kam „Jack Pudding“, wie das Ballett heißt, das Henze aus der Musik zu „George Dandin“ entwickelte, in Heidelberg zur konzertmäßigen Uraufführung.
  • "… schlimmer erscheint mir das gewesene,"Dies ist der erste Brief Henzes an Weil/Jockisch nach seinem Selbstmordversuch in Berlin, vgl. Autobiographie S. 112.
  • "… der neuen dekoration gegeben wird."Welche Inszenierung und Aufführung Henze hier anspricht, ließ sich bislang nicht ermitteln.

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