Brief von H. W. Henze an G. Weil/W. Jockisch, 3. Juni 1950

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[Manuskript]


ihr lieben,

immer deutlicher und dringlicher wird mir das bedürfnis, in der
bevorstehenden arbeit* alles zu geben wozu ich fähig bin. mein
schmerz über das kaputtgegangene* äussert sich neuerdings in
einer nie dagewesenen schwäche gegenüber allen entscheidungen oder
notwendigkeiten des täglichen lebens, der gesellschaftlichen non plus
ultra, dem geschäft, dem existenzkampf. das einzige, was ich
habe – und weiter denke ich nicht – ist die arbeit an der oper,
in die ich die sucht nach wirklichkeit hineinlegen will, und
die zarten traurigkeiten und etwas unvergängliches. ich werde auch
die kommenden wochen und monate hindurch nichts tun als arbeiten.
ich wollte es Euch noch einmal ganz klar sagen. bitte, helft mir
dass es schön wird.

ich habe den streckers das projekt unterbreitet, und sie sind be-
geistert, sodaß wir also auch die rückendeckung durch den verlag
haben. ich werde bild für bild in kalter ruhe komponieren,
und es muss aus einem guss sein, das ganze. nicht zuletzt
soll eine wohlvorbereitete uraufführung in berlin * alles schmutzige
hinwegfegen. ausser der manon werde ich dem hassgeliebten
berlin noch vorsetzen: c’est le may durch fricsay, ein
von muton-wood unter celibidache uraufzuführendes klavierkonzert *
und eine violinkomposition, die taschner sich gestern bei mir be-
stellt hat*. und ich möchte nicht mehr dort wohnen, sondern
nur zuweilen hinfahren.

köhler-helffrich hat mir angeboten, die dramaturgie einer kammeroper,
die seinem staats-laden angeschlossen werden soll, zu übernehmen.
wenn das zustande käme, wäre ich wenigstens gesichert und könnte
ausserdem noch einiges tun.* eine antwort von hilpert, dem ich vor
14 tagen schrieb, habe ich noch nicht. käme sie jetzt noch,
möchte ich schon gar nicht mehr mitmachen, weil alle vorzeichen
ausnahmslos nach schmutz, ärger und gemeinheit aussehen.* ich
möchte so zurückgezogen wie möglich sein. cocteau sagt, man
kann ohne comfort leben, aber nicht ohne luxus. das ist es. und
Eure mahnung, nicht wie weiland klaus mann zu enden*, sitzt mir
in den knochen, gleich dem eiter in meinem oberkiefer, den der
zahnarzt nun schon seit 14 tagen auf schmerzhafteste weise täglich
wieder auswäscht und auskratzt


mein konzert wird erst gegen den 12. juni stattfinden*, weil die
bachwoche dazwischen gekommen ist. so könnte ich aber eine
wiederholungsaufführung der reutter-oper sehen und dann mit Euch
zusammen nach egern fahren. ich würde gern die eisenbahn-
kosten sparen. willy strecker hat mir nochmal 200 mark à conto
gezahlt, daran spare ich nun herum, das soll die wegzehrung
für die sommermonate sein.

meine neuentdeckung ist sehr fehlerhaft und trägt durch eine
anzahl schlechter eigenschaften nicht dazu bei, mich schöneres
vergessen zu lassen! dagegen wandelt sich das, was die
letzten zwei jahre mein leben so unanfechtbar und meine
musik stark und ungebrochen machte, zu einer gloriole des
„nie wieder so schön“ und der unaussprechlichen sehnsucht.

Euer hänschen

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • gelbliches, festes Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 269x204 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Rand: 4cm; sehr ordentlich geschrieben; Schrift schon etwas mehr wie die späteren Briefe, d. h. Buchstaben eher vereinzelt
    • kein Einzug
    • Anführungszeichen unten oben

Schreibstile

Textkonstitution

  • "… auch die kommenden wochen und"anschließend oben in der Zeile ein kurzer, recht kräftiger Strich

Einzelstellenerläuterung

  • "… bedürfnis, in der bevorstehenden arbeit"Henze spricht hier die Komposition der Oper Boulevard Solitude an, die er im kommenden Sommer auf einen Text von Grete Weil komponierte.
  • "… mein schmerz über das kaputtgegangene"Hier spricht Henze sowohl seine privaten Probleme als auch sein „Scheitern“ in Berlin an, die zu einem Selbstmordversuch Ende April 1950 führten.
  • "… eine wohlvorbereitete uraufführung in berlin"Die anfangs in Berlin geplante Uraufführung von Boulevard Solitude (vgl. die vorangehenden Briefe) fand nicht statt. Die Uraufführung erfolgte in Hannover.
  • "… muton-wood unter celibidache uraufzuführendes klavierkonzert"Die Uraufführung des Klavierkonzertes fand am 14. September 1952 in Düsseldorf unter der Leitung von Henze statt.
  • "… bei mir be stellt hat"Diese Komposition scheint Henze nicht ausgeführt zu haben.
  • "… könnte ausserdem noch einiges tun."Vgl. hierzu die Autobiographie S. 116.
  • "… schmutz, ärger und gemeinheit aussehen."Henze erwähnt diese Verhandlungen mit Hilpert für Göttingen in seiner Autobiographie nicht, sondern schreibt dort (S. 115) nur, dass er Köhler-Helffrich wegen eines Engagements in Wiesbaden angeschrieben habe.
  • "… weiland klaus mann zu enden"Klaus Mann, der zum Freundeskreis von Weil/Jockisch vor dem Krieg gehört hatte, vergiftete sich am 21. Mai 1949; vgl. Autobiographie S. 113.
  • "… gegen den 12. juni stattfinden"Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um die konzertante Aufführung von „Jack Pudding“, die für Ende Mai 1950 geplant war, vgl. den Brief vom 12. Mai 1950.

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        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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